Spiegel, 11. April 2005
Jerzy hat bewegende Momente hinter sich: Er kommt gerade aus dem Stadion des Fußballclubs „Cracovia“ und ist von Kopf bis Fuß Fan. Auch hier verehrt man Karol Wojtyła. Der Papst war schließlich auch fußballversessen und als junger Mann selber mal Torhüter. 25000 Fans haben sich zusammengefunden, um auf ihre Art vom Papst Abschied zu nehmen: Die Anhänger der verfeindeten Clubs „Wisła“ (Weichsel) und „Cracovia“ legen ihren mehrjährigen Streit, dem auch politische Gründe aus der Vorwendezeit zugrunde liegen, bei. Wie schon die Jugendlichen in Tschenstochau singen sie Karol Wojtyłas Lieblingslied „Barka“ („Kahn“). Hier spricht man gern von Karol Wojtyła, öfter als von Papst Johannes Paul II. – um zu betonen, wie sehr er doch „einer von uns“ war.
Der muskulöse Junge mit dem „Cracovia“-Tattoo hat klare Gründe, den Papst zu mögen: Der hat in starkem Maße dazu beigetragen, daß „Scheiß-Jaruzelski“ weg ist und Jerzy demnächst ein Praktikum in Birmingham machen kann. Dann fängt Jerzy plötzlich an, von seinem Großvater zu sprechen. Er ist bei der Verteidigung Warschaus gefallen. Und Krakau – das wollten die Deutschen genauso ausradieren wie Warschau. Nur ein Zufall der Geschichte hat die Stadt davor bewahrt, sagt Jerzy und sieht mich an. Nach Monaten ohne Truppenbewegung war die Armee im Januar 1945 in diesem Gebiet wieder vorangekommen und kam in Südpolen rasch vorwärts. Die Deutschen hatten einfach keine Zeit mehr, Krakau zu zerstören. – Man spürt, in diesen Tagen spielen hier in Polen viele Dinge mit, und es ist nicht zuletzt die Stadt Krakau, die sich ein wenig selber feiert.
Wahrscheinlich hätte sich Jerzy für einen Papst anderer Nationalität nicht besonders interessiert. Für ihn ist Karol Wojtyła in erster Linie ein weltberühmter Pole und in zweiter Linie das Kirchenoberhaupt gewesen. Der Papst war fraglos ein Teil der polnischen Identität. Und man spürt, wenn man hier ist, wie groß gerade bei den Jüngeren die Sehnsucht danach ist, einmal auf eine in aller Welt anerkannte Figur verweisen zu können.
„Mit dem Papst haben wir einen der mächtigsten Männer der Welt gestellt“, sagt der Fußballfan jetzt, und man hört ein wenig dabei heraus: „Und wenn der Karol das kann, kann ich das auch.“ Eine Art Hoffnungsschimmer in einer noch gewöhnungsbedürftigen Welt aus „biznesmen“ und neuem Leistungsdruck. Der Papst ist vielleicht etwas verschroben und altbacken gewesen, aber er nötigt einem sehr viel Respekt ab. Selbst eine so mondäne Existenz wie die seit Jahren in Berlin lebende polnische Malerin Anna Krenz schrieb mir, sie hätte den Papst „sehr geliebt“. An anderer Stelle sprach sie phantasievoll von ihm als „weißem Bären“ (biały Miś), der eine „wichtige moralische Instanz“ gewesen sei. Vielleicht bewundern junge Leute eher seine Haltung als konkrete Botschaften. Seine Bücher gelesen hat keiner, mit dem ich sprach. Niemand wollte mit mir kirchliche Dogmen, den Katechismus und die Frauenordination diskutieren. Während Politiker korrupt sind, Firmenchefs lügen und auf nichts Verlaß zu sein scheint, hat der Papst – dem man vieles, aber nun wahrlich nicht zeitgeistige Anbiederung an die Jugend vorwerfen kann – offenbar „street credibility“. He’s cool, sagt Jerzy.
Am nächsten Tag ziehen über 100000 Schüler und Studenten, die sich erst vor ein paar Stunden per Internet verabredet haben, auf die Błonia, die große Wiese vor den Toren der Altstadt. Hier hat der Papst noch zu kommunistischen Zeiten vor Zigtausenden deutliche Worte zur Situation des Landes gesagt.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er nicht mehr da ist.“ Halina, deren bunte Zöpfe in alle Richtungen abstehen, spricht nicht von einem Rockstar, sondern vom Oberhaupt der katholischen Kirche. Sie studiert an der berühmten Krakauer Jagiellonen-Universität, an der Hand hält sie den vierjährigen Jan. Später verweist sie noch öfter auf diesen Punkt: daß der Papst einfach immer da war. Wieder der gleiche Subtext: Politiker, Regimes, Ideologien ändern sich – in einem Land, das schwindelerregende Veränderungen über sich ergehen lassen mußte, war der Papst ein Signum von Unverbrüchlichkeit.
Jetzt ruft Halina auf dem Handy ihre Clique an. Normalerweise treffen sie sich im „Bunker Café“ in der Altstadt oder im „Alchemia“ in Kazimierz, dem einstigen jüdischen Viertel, in dem jetzt viele Studenten und Lebenskünstler wohnen. Von um die 800000 Einwohnern sind 100000 Studenten! Das fünfmal so große Berlin hat nur 50000 mehr.
Es ist nicht die erste „große“ kollektive Trauer, der ich in Krakau beiwohne: Im vergangenen August erlebte ich hier die Beerdigung des Nobelpreisträgers Czesław Miłosz. Mehr noch als die religiöse Innigkeit bei solchen Ereignissen ist es die Selbstverständlichkeit, mit der Kirche und Alltag, Glaube und Terminkalender hier ineinandergreifen, die erstaunt: Für Halina bedeutet, zur Kirche zu gehen, etwas ganz anderes als für Gleichaltrige in den meisten deutschen Städten: In Krakau gehen junge Polen beim Einkaufen oder mit einem Freund, den sie gerade zufällig auf dem Rynek, dem zentralen Marktplatz, treffen, spontan in die Marienkirche. Nach einigen Minuten sind sie dann wieder bei ihren Alltagsgeschäften. Eine Kirche mitten in der Stadt mit jeder Menge Laufpublikum.
Während ich nun wieder den Gebeten zuhöre, geht mir meine eigene „kirchliche Biographie“ durch den Kopf. Ich wurde zwar im „atheistischen“ Berlin katholisch getauft, verweigerte aber später wegen eines vollkommen sinnentleerten Unterrichts die Firmung: Ein Jeansanzug-Pfarrer machte Campingtouren mit uns und spielte den spaghettikochenden Kumpelfreund. Einige Mädchen unserer Gruppe steckten sich zum Spaß ihre Schülerausweise in den Ausschnitt – und unser Pfarrer grabbelte begeistert danach, bis er ihrer unter allgemeinem Gekreische und Getöse habhaft wurde. Das reichte mir damals …
„Was hältst du denn von der Haltung des Papstes zu Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Liebe und Frauenordination“ – in der feierlichen Stimmung wagt man kaum, kritische Fragen zu stellen. Aus allen Gassen der Altstadt kommen mehr und mehr Menschen. Vor dem Bischofssitz in der ulica Franciszkanska 3 – der „Krakauer Adresse“ von Karol Wojtyła, wie man hier sagt – Blumen, Gesänge und Gebete – eine Endlosmesse.
Halina schüttelt stumm den Kopf. „Wieso sollte er denn für diese Dinge gewesen sein? Väter sind doch nie für solche Sachen. Das ignoriert man eben. Statt Karol Wojtyła seine für die ältere Generation einfach typischen Ansichten vorzuhalten, sollte man ihm, denke ich, eher anrechnen, wie progressiv er auf anderen Gebieten war: Er war der erste Papst, der je eine Synagoge und eine Moschee betreten hat.“
Der Zug von Tausenden von Menschen geht langsam weiter. Die Straßen der Altstadt sind klein und schmal – jetzt kann man leibhaftig nachvollziehen, daß sie eher für Prozessionen als für den Autoverkehr gemacht sind. Halina seufzt: „Wenn nun Karol Wojtyła nicht mehr da ist, dann entsteht eine große Leere für mich. Man fühlt sich ein bißchen schutzloser. Wir Polen sind jetzt wieder mehr auf uns selber gestellt.“
Martin Kraft entdeckt uns jetzt. Der 27jährige, der sich als „polophilen“ Deutschen bezeichnet, arbeitet bei „Massolit Books“, einem Antiquariat für englischsprachige Bücher, und lebt seit Jahren in Krakau. Polnisch und Lettisch spricht er fließend. „Die Umzüge haben natürlich auch religiöse Gründe“, meint er, „aber die sind für mich weniger sichtbar als die patriotischen. In erster Linie wurde doch der Papst – Papiez-Polak – als hohe Autorität wahrgenommen, als ein Mensch, der viel für das Land getan hat, auf den man stolz war. Es gab einen Polen, zu dem die Welt aufschaute.“ Er überlegt einen Moment: „Das hat auch einfach mit der Unsicherheit zu tun, die von den neuen Verhältnissen herrührt.“
Halina starrt auf die lange Bahn aus Kerzen, die bis direkt vor die Tür des Bischofssitzes führt: „Sein Tod schließt auf jeden Fall einen großen Abschnitt der gegenwärtigen Geschichte ab, die hier Solidarność, Wałęsa, Kriegszustand, Demokratie, Aufnahme in Nato und EU, also viele wirklich dramatische Momente, umfaßt.“ Nicht weniger als ein Epochenwechsel.
Halinas Sohn fühlt sich nun lange genug nicht beachtet. Er versteht sowieso nicht, warum alle immer zu diesem Fenster aufschauen, in dem’s doch gar nichts zu sehen gibt. Mißmutig flüstert er seiner Mutter etwas ins Ohr. Halina grinst, „Jan sagt, wenn er groß ist, möchte er Papst werden. Letzten Monat war’s noch Astronaut.“