Süddeutsche Zeitung, 23. April 2004
Immer wieder wird hierzulande die Politikverdrossenheit der Literaten angeprangert. Jüngstes Beispiel hierfür sind der Essay „Wir trauen uns nicht“ von Juli Zeh sowie ein Interview mit Robert Menasse in der „Zeit“ vom 4. März 2004. Menasse macht den Verlust des Glaubens an die Vernunft für das Fehlen einer aktuellen engagierten Literatur verantwortlich. Er führt Jean-Paul Sartre und Erich Fried ins Feld als Beispiel für engagierte Autoren, die nicht nur berühmte Schriftsteller, sondern auch öffentliche Figuren waren – zu einer Zeit, in der man noch davon ausging, „daß es so was wie Vernunft in der Geschichte und ein Geschichtsziel gibt“ (Menasse). Das Scheitern des Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus macht Menasse für den Verlust dieses Ziels und des „Trägers der historischen Vernunft“ verantwortlich. Im folgenden entwirft er etwas flüchtig Theorien über Attac als Äquivalent zum früheren Proletariat und entfernt sich von der Fragestellung nach einer engagierten Literatur in immer weitere, diffuse, um nicht zu sagen globale Räume.
Juli Zeh konstatiert, daß nicht Politik-, sondern Parteienverdrossenheit ihre Kollegen befallen habe. Als notorische Einzelgänger wollen sie sich nicht mit einer Gruppe identifizieren und schon gar nicht ein Parteibuch schwingen. „Fanatischen Antikollektivismus“ schreibt Zeh insgesamt dem Volk zu, das schon immer gern zu Übertreibungen neigte und das nach dem Untergang des Dritten Reichs, welches sich u. a. auf kollektivistischen Herdentrieb gründete, nun gern einen radikal entgegengesetzten Kurs ansteuert.
Zehs und Menasses Überzeugungen sind interessant – aber klären sie wirklich die Ursachen für die – unterstellte – Politikverdrossenheit deutschsprachiger Autoren?
Die erste Frage muß lauten: Bestimmt hierzulande überhaupt Politikverdrossenheit die Literatur? Mein Eindruck ist: nein. Man muß nicht alle Bücher schätzen, die in den vergangenen Jahren politische Themen verarbeitet haben, aber wenige waren es nicht: Angefangen von den üblichen Verdächtigen der alten Garde, vom Bodensee bis Schleswig Holstein, bis hin zu Christoph Hein und Uwe Timm, zu Jüngeren wie Ilja Trojanow, Ingo Schulze, Marcel Beyer, Katrin Röggla, Jakob Hein, Juli Zeh, Thomas Meinecke, Tanja Langer, Torsten Schulz, Jörg Bernig, Lena Kugler und Marion Poschmann mit ihren in Osteuropa angesiedelten Romanen, Vladimir Vertlib und Steffen Mensching mit ihren Emi- und Immigrationsgeschichten, Leander Scholz mit seiner Bearbeitung des RAF-Themas, und viele andere mehr. Unter den Lyrikern finden sich, von H.M. Enzensberger über Brigitte Oleschinski und Ulrike Draesner bis hin zu Jan Egge Sedelies, auch einige mit expliziten politischen Bezügen. Die Diagnose Politikabstinenz trifft schlicht nicht zu.
Zeh und Menasse übersehen die Vielzahl an Romanen, Erzählungen und Gedichten politischen Inhalts, um das negative Bild einer „politikfeindlichen“ Literatur, in der Kunst so produziert wird „wie die Seidenraupe ihre Seide spinnt“ (Menasse) zu entwerfen. Dabei hat es in den letzten drei bis fünf Jahren einen erstaunlichen Zuwachs an politischen Themen im Spektrum der neueren deutschsprachigen Literatur gegeben. Was sind die Gründe hierfür? Vielleicht war nach der Erfahrung der Wende und der sich hiernach neu ordnenden Welt schlicht Zeit nötig, um diese komplexen Veränderungen in Literatur umsetzen zu können. Vielleicht hat auch ein neues Interesse an Osteuropa und mit ihm die Begegnung der Deutschen mit ihrer in diesen Ländern geradezu konservierten Vergangenheit zu einer neuen Flut an Büchern über die NS-Zeit und ihre Folgen geführt. Ulla Hahn, Olaf Müller, Reinhard Jirgl, Wiebke Bruhns, Stephan Wackwitz, Christoph Hein, Günter Grass – sie alle schrieben in den letzten drei Jahren Bücher über die Geschichte der Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten und das Schicksal der Vertriebenen.
Hingegen scheint mir die Diagnose der Parteiverdrossenheit, der Ablehnung einer programmatischen Haltung zuzutreffen. Kaum ein Autor vertritt heutzutage eine politische Haltung, die flugblattkompatibel wäre. Jeder läßt ein eindeutiges „Ja“ oder „Nein“ vermissen.
Der Grund für diesen „Mangel“ an politischer Bekenntnisfreude im Sinne einer engagierten Literatur im Verständnis der sechziger Jahre mag tatsächlich im Verlust von Eindeutigkeiten liegen. Die Bipolarität des Kalten Krieges wurde durch eine neue Unübersichtlichkeit ersetzt. Vielleicht zielt Menasse mit seinem etwas problematischen Begriff der „Vernunft“, die er allenorts meint, vermissen zu müssen, auf diesen ubiquitär anzutreffenden Verlust von Eindeutigkeiten. Schließlich ist derzeit keine mittelalterliche Irrationalität wieder ausgebrochen, wie er suggeriert, sondern eine neue Vielperspektivität bzw. Überkomplexität. Allerdings ist auch die Diagnose der unübersichtlich gewordenen Welt nach dem Ende der politischen Bipolarität, die eindeutige Zuordnungen nicht mehr zulasse, längst ein Allgemeinplatz.
Zeh und Menasse fügen größtenteils zutreffende Analysen zu einem im ganzen jedoch nicht stimmigen Generalverdacht, nämlich den der Politikabstinenz in der neueren deutschsprachigen Literatur. Anstatt sich den Büchern zuzuwenden, die sich dezidiert mit politischen Inhalten beschäftigen, wird nur über ein behauptetes Vakuum, eine Abwesenheit reflektiert – was allemal hypothetischer, nebulöser und weniger nachvollziehbar ist als die Diskussion über das, was tatsächlich vorhanden ist.
Interessanter wäre es gewesen, sich anzuschauen, auf welche Weise politische Inhalte in die Belletristik transferiert werden, welche Veränderungen sie auf diesem Weg erfahren und was sie sich dabei gefallen lassen müssen.
Ich werde versuchen, mich auf dieses zugegebenermaßen glatte Eis zu begeben. Vorab jedoch: Es ist immer einfacher, vage über Abwesenheiten zu räsonieren, als sich mit dem konkret Vorhandenen auseinanderzusetzen – zumal der Leser bei letztgenanntem Unterfangen viel eher die Möglichkeit der kritischen Überprüfung hat.
Ich habe folgenden Verdacht: Nicht die Ignoranz, sondern die Literarisierung des Politischen läßt sich konstatieren. Und daraus folgt: Die Verarbeitung des Politischen in der Literatur hat seit den sechziger Jahren solch eine grundlegende Veränderung erfahren, daß politische Inhalte oft gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden.
Die Literatur versteht die Integration politischer Themen und Inhalte zunehmend nicht als Vorlage für aktives politisches Handeln. Politisch ausgerichtete Romane waren in den letzten Jahren fast alle vergangenheitsorientiert und reflektierend, nicht impulsgebend-aktionistisch im Gestus. Kaum ein Autor schrieb einen Roman, der im Nahen Osten spielt, in Tschetschenien oder auch nur in einer Neonazi-Hochburg in Brandenburg. Fast alle Autoren nehmen Abstand von der Analyse der Gegenwart (am ehesten findet diese noch ihren Niederschlag in der Lyrik!). Dies ist sehr bemerkenswert. Während in der Literatur der sechziger und siebziger Jahre die Themen, die damals virulent waren (Johnson, Weiss, Böll, Hochhuth, Grass, Frisch, Hildesheimer etc.) aufgegriffen wurden, findet nun die große Retrospektive statt. Die neue Literatur beschäftigt sich fortwährend mit Politik – in viel stärkerem Maße als vor 15 Jahren und in viel stärkerem Maße, als allerorts im Feuilleton geunkt wird -, aber sie entwirft keine Utopien mehr, sie ist nicht zukunftsorientiert. Anstatt zu provozieren, wird erinnert. Warum ist dies so? Eine mögliche Antwort wäre, daß die Literatur ihre politisch-investigative Kompetenz, wie sie noch in vielen Romanen der fünfziger und sechziger Jahre zu finden war, längst an den ihr an Aktualität überlegenen Journalismus abgegeben hat. Mir scheint, daß die Funktionen der Literatur sich verschoben haben; die Autoren verarbeiten jetzt politische Inhalte anders als noch in den „engagierten“ Dekaden. Auch ihre Leserschaft hat sich gewandelt. Die jungen Globalisierungskritiker, Umweltschützer und Anti-Gen-Food-Aktivisten beziehen ihr Wissen und ihre Handlungsmaximen nicht aus Romanen, sondern aus Journalen, Sachbüchern, Filmen und Videos. Sie brauchen keinen Heinrich Mann mehr, um etwas über Untertanentum, Herrschaftsverhältnisse und hierarchische Strukturen zu erfahren. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, daß ein Roman wie der „Steppenwolf“ von Hermann Hesse Ende der sechziger Jahre die jugendlichen Gemüter so erhitzen und zur Vorzugslektüre einer ganzen Bewegung werden konnte.
Mir scheint, die Literatur der Gegenwart hat zunehmend die Nische ausgefüllt, die ihr die allgegenwärtigen Medien – der seriöse investigative Journalismus eingeschlossen – übriggelassen hat. Doch daraus folgt auch, daß nicht sie sich den politischen Inhalten angepaßt, sondern diese Inhalte assimiliert und ihrem Wesen angeglichen hat. Die neuen Romane haben sich die Politik einverleibt, nicht umgekehrt. Die Literatur ist nicht aktionistisch, denn die politischen Themen werden auf eine sehr literarische, „innerliche“ Weise (Rückblick, Innehalten, Erinnern, Fragen) bearbeitet.
Ist diese Literarisierung des Politischen bedenklich? Nein. Belletristik hat schon immer die Schnittstelle zwischen Privatem und Gesellschaftlichem beschrieben. Allein schon aus ihrer Entstehung heraus: zutiefst privat produziert und dann als käuflich erwerbbares Produkt der Gesellschaft zugänglich gemacht.
Die Literatur kann nicht das Faktenwissen ersetzen, das eine Tageszeitung bietet, sie kann auch nicht Handlungsmaximen anbieten, wie es ein Flugblatt oder eine Öko-Zeitschrift tun. Doch die Literatur hat es nicht nötig, sich anzubiedern und sich ihr wesensfremde Kompetenzen aufzuzwingen wie in den sechziger Jahren. Sie liefert das Unterfutter, das Subkutane, die emotionalen Hintergründe, den profunderen Blick, die Möglichkeit zur Identifikation, die „Stimmung“, die „Atmosphäre“ zu dem Zahlenskelett und Fakten der Nachrichten. Sie ist tatsächlich die Brücke, die Schnittstelle, die Vermittlerin zwischen Privatraum und Gesellschaft. Indem sie das Politische mit dem Intimen verbindet, setzt sie auch den Leser als Privatperson mit seiner sozialen und politischen Umwelt in Kontakt.
Hier scheint vielleicht etwas von der Rückkehr des Irrationalen spürbar, von dem Menasse – im Vergleich zur aufklärerischen Literatur eines Jean-Paul Sartre – spricht.
Doch es handelt sich hierbei nicht um einen „gefährlichen“ Irrationalismus, wie Menasse suggeriert – „Wenn sich ein Künstler nicht mehr als Teil einer Weltbewegung der Vernunft sehen kann, dann fällt er auf einen Punkt zurück, der historisch nur bekannt ist aus der Zeit vor der Aufklärung. Er befindet sich in einer nicht ausdifferenzierten Welt, in einer Welt, in der es keine Widersprüche und Alternativen gibt. In gewisser Weise ist er wieder im Mittelalter angekommen“ (Menasse) -, denn es handelt sich in der gegenwärtigen Literatur nicht um einen Irrationalismus „vor der Vernunft“ – wenn man historisch so arrogant urteilen will -, sondern um eine Poetik „nach der Vernunft“ – also von Elementen der Vernunft durchdrungen, doch nicht von ihr instrumentalisiert.
Berlin, März-April 2004