EDIT, Heft 29, Herbst 2002
Die Präsenz vieler erfolgreicher, junger Schriftsteller im Literaturbetrieb kann man als ein Phänomen der neunziger Jahre begreifen. Martin Hielscher legte mit der Anthologie „Wenn der Kater kommt“ ein vielbeachtetes erstes Kompendium neuer unverbrauchter Stimmen vor. Gemeinsam mit Uwe Wittstock wurde er ein engagierter Förderer junger Autoren, die oft erfrischend hemdsärmelig, ohne literaturbetriebliche Allüren, in Trainingsjacke statt im Jackett und mit echtem Mut zur Lücke das Mikrophon ergriffen. „Von Maulhelden und Königskindern. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur“ nannte sich treffend eine kritische Essaysammlung zum Phänomen der hedonistischen Hans-Wurst-Genies und unbekümmerten Hinterhof-Ladies, in der die Herausgeber Andrea Köhler und Rainer Moritz den neuen literarischen Zeitgeist beleuchteten.
Angeregt dazu wurden diese Förderer und wohlwollenden Beobachter natürlich von den zahllosen Manuskripten, die auf ihre Lektorentischen segelten. „Neues Erzählen“, „Neue Epik“ wurden Schlagworte. Man wollte – ein wenig am amerikanischen Vorbild orientiert – von Schriftstellern wieder „Geschichten“, Episches lesen und nicht in erster Linie selbstverliebte Reflexionen, zum Beispiel über den Sinn des Schreibens … „Metaliteratur“ wurde nun ein Teil der sehr abstrakten, theoretischen Literatur der achtziger Jahre genannt. So ungerecht diese Kategorien sicher im einzelnen waren, so ermöglichten sie doch vielen jüngeren Autoren den Durchbruch. Was bei einzelnen Lektoren noch einem ernsthaften Interesse an Geschichten entsprang, die vom neuen Alltag im wiedervereinten Deutschland, vom Lebensgefühl einer Generation nach einer historischen Zäsur berichteten, schien bei manchem Verleger eher mit ökonomischem Kalkül verbunden zu sein: Die Lizenzen für „flotte“ amerikanische Romane erwiesen sich zunehmend als unerschwinglich, und außerdem entdeckte man in den neunziger Jahren im Fahrwasser anderer Branchen die Jungen und Jüngsten als kaufkräftige Klientel, die sich bitteschön nicht nur Videos und Handys, sondern auch trendige Romane zulegen sollten. Die Angst des Literaturbetriebs, zurückzubleiben hinter anderen Anbietern der Freizeitindustrie – und zu einem ihrer Bestandteile ist der Buchmarkt mit seinen Reiseführern, Hobbyratgebern und Urlaubsromanen mutiert -, war nach den unter ökonomischem Aspekt nicht sehr erfolgreichen achtziger Jahren (im Ausland sank das Interesse an deutscher Literatur beträchtlich) sehr groß. Man erwartete also viel von den jungen Autoren, wobei sich eine große Diskrepanz auftat zwischen dem wachsenden Anspruch einiger Verlagshäuser, jeden, wenngleich nicht immer vornehmen, Publikumsgeschmack zu bedienen und in erster Linie wirtschaftlich erfolgreiche Romane zu veröffentlichen, und dem ausschließlich unter künstlerischen Gesichtspunkten urteilenden Feuilleton auf der anderen Seite. Dennoch scheint mir, daß den jungen Autoren von vornherein eine Lücke im Literaturbetrieb zugewiesen wurde – nämlich die Bedürfnisbefriedigung junger, vergnügungsorientierter Leser (aus Verlegersicht) bzw. die Rückkehr zum „amerikanischen“, narrativen, unprätentiösen Text, der sich thematisch mit den „kleinen Dingen“ befaßt und die Abkehr von den großen Ideologien auch mit seinem hemmungslosen Privatismus zelebriert (aus Sicht der Kritiker). Die Bewältigung des „großen Wenderomans“ oder des nächsten Romans über „unsere Epoche“ wurde hingegen eher von den etablierten, älteren Autoren erwartet.
Dabei haben einige junge Autoren in den letzten Jahren durchaus politische Bücher veröffentlicht, wenngleich in einer für das Feuilleton nicht immer genießbaren oder verständlichen (im Sinne von: feuilletonkompatiblen) Sprache: Denn der Erfolgsspuk vieler junger Autoren – die natürlich keineswegs eine homogene Gruppe sind – hielt nur kurze Zeit an, dann wurde im Feuilleton schon die Anklage verlesen: „Zuviel Hedonismus! Zuviel Pop!“ Sofort fiel einigen dieser jüngeren Autoren auf, daß die für Literatur zuständigen Staatsanwälte wenig Ahnung hatten, was zum Beispiel „Pop“ überhaupt bedeutet. Kein Begriff wurde in den letzten Jahren derart undifferenziert und zugleich inflationär verwendet. Walter Benjamin hatte schon längst Erhellendes über die Begriffe „Aura“ und „das Auratische“ geschrieben („Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“) – ganz zu schweigen von Kunsthistorikergrößen wie Clement Greenberg, Lawrence Alloway und Barbara Rose – aber die Feuilletonisten verwechselten Pop mit Trash.
Pop auratisiert die Oberfläche und löst den Hintergrund ganz in der Ästhetik des Scheins auf. Pop ist konkret, optimistisch. Pop ist Candy. Trash wiederum ist pessimistisch, philosophisch, kommt dabei aber ohne Lexikon aus. Trash spricht zwar von der Oberfläche, der Party, den Drogen, dem trüben Nachgeschmack, zielt dabei aber eigentlich auf einen elegant ausgeklammerten Subtext, den Hintergrund. Doch dieser wird dem Leser nicht vordergründig als Psychogramm oder Portrait einer ganzen Gesellschaft offeriert wie bisweilen in der „Metaliteratur“ – der Leser muß ihn selbst erspüren. Pop ist immer prä: vor dem Erwachsenwerden, vor der Politik, vor der Zerstörung (der Oberfläche). Trash ist post: nach der Party, nach dem Morgen danach und zwischen den Residuen der Zerstörung. Die literaturbetrieblichen Staatsanwälte haben vielen jüngeren Autoren die Beschäftigung mit der Oberfläche unter dem Etikett „Pop“ vorgeworfen, ohne zu verstehen, daß ihre Literatur unter dem glitzernden Deckmäntelchen der „Party“ meist höchst pessimistische, gründlich recherchierte Soziogramme in einer wenig larmoyanten Sprache entwarf. Der Vorwurf „Pop“ ging sogleich einher mit dem Vorwurf „Wie unpolitisch!“ – anstatt zu begreifen, daß eine andere, jüngere Generation politische Themen möglicherweise in einer anderen Sprache behandelt, daß politischer Text nicht Pamphlet bedeuten muß und die sehr grob gestanzten Bilder der 68er auch literarisch keine Richtlinien mehr bieten. Aber man sieht nur, wozu die Sehwerkzeuge ausgebildet sind – bzw. was man gewohnt ist: So entstand die Mär der jungen unpolitischen Autoren.
Mangelndes Zutrauen ist eine mögliche Interpretation, man könnte auch konstatieren: Delegierungsprobleme. Denn: Ein so sensibles Thema wie zum Beispiel den (literarischen) Umgang mit der NS-Zeit möchte man ungern „abgeben“. Vielleicht ist die Angst zu groß, daß jüngere Autoren nicht mit dem Respekt oder der Vorsicht an dieses Thema herangehen, wie die bisherigen Monopolisten sich das wünschen. Ein Beispiel für eine irritiert-konservative Reaktion auf den ungewohnten literarischen Umgang mit einem heiklen Thema war die Veröffentlichung des Kölner Autors Leander Scholz (Jahrgang 1969): Mit „Rosenfest“ (2001) schrieb er einen Roman, der sich mit der Geschichte der RAF beschäftigt. Aber er tat dabei etwas ganz „Unerhörtes“: Er schrieb die Geschichte um, verschmolz die klar abgegrenzten Gebiete Historie und Fiktion. Und das wurde ihm im Feuilleton sehr übel genommen.
Eine weiterer Grund die mangelnde Rezeption der sich als politisch verstehenden Romane jüngeren Autoren läßt sich mit der Frage „Wie machen Medien Politik?“ auf spüren?
Viele Publikationsorgane garnieren ihre Seiten oder Auftritte gern mit ein paar kontroversen Artikeln, Stellungnahmen etc., vielleicht um sich, dem Zeitgeist entsprechend, ein kühnes Image zu geben. Eine bekannte junge Münchner Autorin schrieb einen gründlich recherchierten, recht provokativen Artikel zur Walser-Schirrmacher-Debatte und schickte ihn an mehrere große Zeitungen. Alle lehnten ab. Wenige Tage später stand in einem dieser Blätter: „Niemand von den jüngeren Autoren scheint sich für diese Thematik zu interessieren.“
Es wird Zeit, daß sich die jüngeren Autoren ebenfalls Zugriff auf Themen erlauben können, die bisher nur dem selbsternannten Olymp gebilligt waren – und nicht in der ihnen zugewiesenen literarischen Kuschelpartyecke versauern.