In der derzeitigen Debatte um die Urheberrechte sind Aussagen wie „Kunst kann doch jeder machen“, „Kunst setzt sich aus Ideen zusammen, die in der Luft liegen, was ist daran individuell?“ oder „Das Denken gehört allen, Kunst und Kultur sollte daher kostenfrei für jedermann zugänglich sein“ zu hören. Hauptsächlich sind es Vertreter oder Anhänger der Piratenpartei, die sich in dieser Weise äußern. Solche Äußerungen machen deutlich, wie wenig manche Menschen leider von schöpferischer Arbeit verstehen. Zunächst: Natürlich sind die Gedanken frei. Niemand kann und darf das Monopol auf das Wort „Liebe“ erheben, das tut auch niemand. Aber wenn ich eine Liebesgeschichte schreibe, wenn ich Allgemeingut in eine individuelle Sprache übersetze und eigene Figuren kreiere, dann verdient meine Geschichte den Schutz eines Urheberrechts. Dass das bestehende Urheberrecht modifiziert und an digitale Verwendungsformen besser als bisher angepasst werden muss, steht auf einem anderen Blatt.
Dieser transformatorische Schritt, der schöpferische Prozess, ist keine Tätigkeit, die man nebenbei erledigt. Diese enorme Anstrengung kann nicht, wie es manchmal anklingt, als Hobby abgetan werden kann, für das man bitte keine Honorarforderungen stellen darf. Der Weg zum Buch ist meist lang. Immer wieder wird man als Schriftsteller gefragt, wie lange man denn an einem Roman gesessen habe. Ich antworte meist: drei bis fünf Jahre, weil ich mich schäme, dass mindestens zwei meiner Romane deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen haben. Am Anfang ist die Idee, nein, leider eine Vielzahl von Ideen, die es zu sondieren gilt. Tatsache ist, dass die meisten Schriftsteller mehr Zeit mit Grübeln als mit Schreiben verbringen. Von Heinrich Böll ist posthum ein ganzes Buch nur mit Abdrucken seiner Romanskizzen erschienen. Oft fallen auch umfangreiche Recherchen an. Es kann passieren, dass das Ergebnis der Recherche deutlich von dem abweicht, was man sich vorgestellt hat, zumindest muss man möglicherweise die Ausrichtung eines Romans verändern. Ich kenne mehrere Schriftsteller, die an Romanen arbeiteten, deren Handlung in den USA angesiedelt war, und die dann vom 11. September überrascht wurden. Allein die Recherchephase dauet bei vielen Autoren mehrere Jahre, insbesondere wenn sie mit Reisen verbunden ist.
Wenn der Autor meint, sein Manuskript sei abgeschlossen, wendet er sich an seinen Verlag. Auch wenn man die Beziehung von Verlagen zu ihren Autoren nicht romantisieren sollte (natürlich gibt es Verlage, die ihre Autoren schlecht bezahlen und sich wenig um sie kümmern): insgesamt entspringt die Vorstellung, Verlage als „böse Verwerter“ seien weitgehend überflüssig, großer Unkenntnis von der schriftstellerischen Arbeit. Für Schriftsteller sind Lektoren enge Vertraute, auf deren Hilfe sie angewiesen sind. Dem Lektor fällt die schwierige und auch undankbare Aufgabe zu, einem Autor auf die Schwachstellen seines Manuskripts aufmerksam zu machen. Der Lektor muss einen ebenso nachdrücklichen wie sanften Einfluss auf den Autor ausüben. Er muss ihm das Gefühl geben, die Schwachstellen letztendlich selbst bemerkt zu haben, er muss unsichtbar bleiben und dennoch viel verändern. Lektoren haben einen maßgeblichen Anteil an der Qualität der in ihrem Verlag publizierten Bücher, und jeder Autor, der ehrlich ist, wird dies zugeben. Es sei denn, er hat einen schlechten Verlag erwischt, der kaum noch über ein nennenswertes Lektorat verfügt. Aber nicht nur der Lektor zeichnet einen Verlag aus: Pressearbeit, Organisation von Lesungen und Lesereisen, Vergabe von Lizenzen, Übersetzungen – all diese Dinge kann ein Autor nicht neben dem Schreiben bewältigen. Nicht nur, weil auch diese Jobs Profis erfordern, sondern weil ihm schlicht keine Zeit zum Schreiben bleiben würde.
Im Zuge der Kritik am bestehenden Urheberrecht sind Alternativ-Bezahlungsmodelle für Künstler ersonnen worden. Man muss sie prüfen, denn langfristig wird es nicht möglich sein, Urheberrechte noch, wie in analogen Zeiten, über die Anzahl von Kopien durchsetzen zu wollen. In einem (digitalen) Zeitalter, in dem Original und Kopie identisch sind und oft über eine gleich gute Qualität verfügen (anders als in den 80er Jahren, als es noch rauschende Mixkassetten gab), kann man diese Grenze nicht mehr ziehen. Die technische und moralische Unmöglichkeit, jeden einzelnen Rechner hinsichtlich seines Datenstroms zu kontrollieren, ist ein zweiter Aspekt. Man wird nicht umhin kommen, eine wie auch immer geartete Pauschalvergütung einzuführen. Die sinnvollste Idee stammt zur Zeit von den Grünen: bei der die Kulturflatrate wird pro Breitbandanschluss eine bestimmte Summe gezahlt und von einer Stelle wie der GEMA bzw. der VG Wort an die Künstler verteilt.
Crowdfunding – von den Piraten als Rettungsanker in der digitalen Welt gepriesen – kann keine seriöse Alternative für Künstler sein. Was für eine einzelne Indien-Fahrrad-Reise noch funktionieren mag, ist nicht auf Tausende von Künstlern anwendbar. Sie wollen nicht keine verrückte Idee ausprobieren, sondern von ihrer Arbeit leben. Doch Crowdfunding ist eine unberechenbare Angelegenheit, ein Glücksspiel. Wie viel angenehmer ist die Situation des Autors, wenn er einen Vorschuss von seinem Verlag erhält: Diese Vorschusszahlung erlaubt dem Schriftsteller Zeit und Ruhe zum Schreiben zu haben – ohne wie beim Crowdfunding ständig mit dem Gelderwerb beschäftigt zu sein. Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Vorschusshöhen, und manche entbinden auch nicht von der Arbeit auf anderem Sektor. Dennoch: In der Regel kann der Schriftsteller für einen begrenzten Zeitraum von seiner Kunst leben.
Beim Crowdfunding ist die Arbeitsteilung aufgehoben, in der Person des Autors treffen Kunstschöpfung, -bewerbung und -verbreitung zusammen. Der Autor muss die Idee seines neuen Werks, bevor er dieses überhaupt verfassen konnte, schon vermarkten. Er muss im Internet bittstellern, egal, ob dies seinem Temperament entspricht oder nicht. Diese Doppelbeschäftigung, introvertierte Arbeit am neuen Roman, bei gleichzeitiger Vermarktung im Internet, kann der Ruhe und Konzentration, die die Arbeit an einem Roman erfordert, nur abträglich sein.
Crowdfunding begünstigt zudem ein neofeudales Massen-Mäzenatentum, denn der Autor schreibt nur noch Mehrheitsmeinungen hinterher. Während Verlage noch den Mut haben, selber einen Stil zu begründen oder auch eine Mode nicht mitzumachen, gibt es beim Crowdfunding keine kritisch-sondierenden Stimmen, keine Vorauswahl mehr. Gegen Crowdfunding spricht auch die Abhängigkeit von vielen hunderten oder Tausenden von Menschen. Sie nämlich entscheiden, ob ein neues Buch erscheinen wird oder nicht. Wenn nur ein einziger Verleger sich für ein Buch begeistert, druckt er es – beim Crowdfunding wird nur in den wenigsten Fällen ein künftiger Konsument ein Projekt komplett allein finanzieren, der Autor muss eine Vielzahl von Menschen vorab überzeugen.
Auch muss angezweifelt werden, ob die Freiheit der Kunst unangetastet bleibt, wenn x Stimmen aus dem Internet mitmischen wollen. Den Einen interessiert das Grundthema des Romans, noch besser würde er ihm aber gefallen, wenn die Handlung in Berlin statt Hamburg spielen würde, der nächste Online-Leser lässt wissen, er wäre ja bereit, das Buchvorhaben zu unterstützen, aber ist dieser Doppelsuizid am Ende nicht ein wenig effekthascherisch? Der übernächste findet, dass in dem Buch unbedingt ein Matrose vom Hamburger Hafen auftauchen muss – wenigstens am Rande. Der Autor wird vermutlich in den Jahren, in denen er am Manuskript sitzt, keine ruhige Minute mehr haben, er wird ständig mit vielen seiner Unterstützern Kontakt halten und Fragen erhalten, wie weit das Manuskript gediehen sei und ob man mal etwas lesen könne …
Darüberhinaus berät ein Verlag seine Autoren in literaturbetrieblichen Fragen – ob sie sich für einen Preis bewerben sollten, welches Stipendium sinnvoll sein und welches Interview man ruhig mal absagen könnte. Der Verlag bietet eine Art Schutzschild und Filter um den Autor, oft ja sensible, eher öffentlichkeitsscheue Menschen.
Auch der Leser würde einen Verlust erleiden, wenn Zahlungsmodelle wie Crowdfunding die Verlagslandschaft ablösen sollten: Verlage mit ihren spezifischen Programmen bieten Orientierung in der Flut von unzähligen Neuerscheinungen. Im Internet hingegen sieht sich der Leser mit Tausenden Sites konfrontiert. Wer hat schon den Nerv, sich da durchzuklicken, weil er vorm Einschlafen eine halbe Stunde lesen will?
Die derzeitige Debatte über das Urheberrecht, bei aller Berechtigung der Reformierung, deprimiert: Jahrhundertelang haben Künstler um Anerkennung kämpfen müssen, sie waren lange entweder dem Staat oder der Kirche verpflichtet. Erst in Folge enormer gesellschaftlicher Umgestaltungs- und Emanzipierungsprozesse konnte sich die nicht zweckgebundene Kunst gesellschaftlichen Freiraum schaffen. Doch selbst dieser war begrenzt: Die Meisterwerke, die wir heute bewundern, sind oft genug von offizieller Seite verfemt worden, ihre Schöpfer waren nicht selten Außenseiter der Gesellschaft. Im Dritten Reich wurden Künstler verfolgt und umgebracht. In der DDR wanderten inopportune Künstler ins Gefängnis oder wurden ausgewiesen. Es ist fast noch ein Novum, dass freie Künstler – hierzulande, nicht überall auf der Welt – wirklich gesellschaftliche Anerkennung erfahren und „Künstler“ nicht mehr gleichbedeutend ist mit „Verrückter“ oder „Sonderling“. Erst seit Kurzem ist die Beschäftigung mit Kunst keine elitäre Angelegenheit mehr, sondern – im Westen in Folge der Bildungsoffensive – ein Breitenangelegenheit geworden, wie „Lange Nächte“ und steigende Besucherzahlen in fast allen großen Museen Deutschland beweisen. Kunst ist gefragter denn je. Dennoch kann die Majorität der Künstler in Deutschland kaum von ihrer Kunst leben. Auch wenn nicht jeder, der erfolglos ist, in Wahrheit ein großer Künstler ist und der ein oder anderer auch besser den Beruf wechseln sollte: Künstler müssen – weiterhin – am Verkauf ihrer ureigenen Werke substanziell verdienen können, sonst wird es viel weniger Kunst geben. – Eigentlich waren es immer die Alten gewesen, die nicht wollten, dass ihr Sohn oder ihre Tochter „ausgerechnet was mit Kunst“ macht, statt Finanzbeamter zu werden oder Kindergärtnerin. Die Zeiten sind nicht lange her. Dass es jetzt ausgerechnet junge, vermeintlich progressive Leute sind, die überhaupt nicht verstehen, was Kunst bedeutet und wie sie entsteht, und dass sie nicht einfach wie die Wasser, die Luft oder „die Gedanken“ einfach da ist, überrascht dann doch.