Die Protagonisten schwarz-gelber Gesinnung geben sich gern bürgerlich-modern – und sind doch in Wirklichkeit reaktionär.
Jeder Regierungswechsel ging bisher mit dem Versuch einher, den Zeitgeist neu zu definieren. Unter Helmut Kohl war es die pathetisch angekündigte „geistig-moralische Wende“, unter Rot-Grün die vage Idee einer „neuen Mitte“. Auch die Propagandisten der frisch gewählten Regierungskoalition – unter ihnen Peter Sloterdijk, Norbert Bolz und Steffen Burkhardt – scheinen den Wahlsieg in eine längerfristige kulturelle Hegemonie überführen zu wollen und basteln bereits an einer neuen Leitkultur.
Im Mittelpunkt steht ihre Definition von Bürgertum, von Bürgerlichkeit. Diesen gegenwärtig ebenso diffusen wie auratisch aufgeladenen Begriff für sich und die eigene Imagepolitik zu monopolisieren, bietet sich insofern an, als er sozialgeschichtlich betrachtet einem starken Wandel unterworfen war. War das Bürgertum früher vom Adel und Klerus sowie von Bauern und Arbeitern abgegrenzt, ist seine soziotypologische Einordnung heute nicht mehr festgelegt und ist, wie der Berliner Feuilletonist Harald Jähner äußert, zu einer Art „Wunschidentität“ geworden. „Der Trend heißt bürgerlich, seit Längerem schon. Seit die ehemaligen Hausbesetzer und Steinewerfer der APO die Zivilgesellschaft für sich entdeckten, also spätestens seit der Wende, erlebt das Bürgerliche ein Comeback“, konstatiert Jähner.
Doch während dem Bürgertum bisher Vertreter unterschiedlicher politischer Couleur angehörten, versuchen die neuen Regierungssouffleure nun zu statuieren, dass eine schwarz-gelbe Gesinnung – womit nicht zuletzt auch eine bestimmte Einkommenshöhe gemeint ist – darüber Aufschluss gibt, ob sich jemand zum Bürgertum zählen darf oder nicht. Vor allem wird dabei auf die Creative Class abgezielt, die zunehmend als einflussreiche und finanzstarke sozioökonomische Gruppe entdeckt wird.
In seinem atemberaubend anmaßenden Essay Mit uns zieht die neue Zeit – So lebt und liebt die neue ‚Generation Mitte’ meint der Kunsthistoriker und Kommunikationswissenschaftler Steffen Burkhardt so ziemlich alles, was seit einigen Jahren, in manchen Fällen seit der Wende, an Schönem, Geschmackvollem und Originellem en vogue ist, für eine Hervorbringung schwarz-gelber Provenienz zu halten. „Man residiert in Altbauwohnungen und Villen, Lofts und Bunkern, gespickt mit Vintage-Klassikern, die bei eBay ersteigert wurden“, weiß Herr Burkhardt.
Richtig, antworten die Wähler verschiedenster Parteien. Auch die „neue individualistische Kultur“ findet bei ihm Erwähnung – dies ist ebenso ein bekannter, soziologischer Post-Wendebefund und hat nichts mit dem erfundenen schwarz-gelben Zeitgeist zu tun. Der Versuch der Vereinnahmung ist jedoch dreist: Individualistisch gesinnte Kulturleistungsträger wie Jonathan Meese, Norbert Bisky oder Marc Brandenburg gelten plötzlich, ob sie wollen oder nicht, als Repräsentanten der neuen Regierung.
Wenn Burkhardt über das neue Bürgertum behauptet: „Die einst generationell sinnstiftende Gattung der Popmusik wird abgelöst durch ein Faible für zeitgenössische Kunst“ drückt sich darin nichts anderes aus als eine Abgrenzung der Geldbürger gegenüber den weniger wohlhabenden Teilen der Bevölkerung, die sich zwar CDs leisten können, aber keine Gemäldeankäufe. Plötzlich gibt es ein neues Ausschlusskriterium, bei dem es nicht wirklich um künstlerische Qualität geht, die sich selbstverständlich genauso in der Pop- und Rockmusik wie auch in der Neuen Musik (die es für Burkhardt nicht zu geben scheint) findet wie in der gegenwärtigen Malerei.
Entscheidend ist offenbar nicht der Kunstgehalt, das Kunstwerk an sich, sondern der Geldbeutel. Entscheidend ist nicht die Liebe zur Kunst, sondern nur ein zum Trend ausgerufener Lebensstil, zu dem Kunstbesitz dazugehört wie gutes Essen und das richtige Outfit. Wichtiger als die Liebe zur Kunst ist der Besitz der Kunst – kurz: Der Umgang mit Kunst verkommt zur Lifestyle-Attitüde.
Die Abgrenzung erfolgt bis in die intimen Bereiche. Wer das falsche Regal im Wohnzimmer stehen hat oder die falschen Kleider trägt, gehört nach Auffassung der schwarz-gelben Stil- und Sittenpolizei schon nicht mehr zur neuen Bourgeoisie. Da wird behauptet „Frauen tragen wieder figurbetonte Kleider, ohne sich von Feministinnen einreden zu lassen, dass sie damit das schwache Weibchen geben“. Deutlich wird in solchen Äußerungen nur: Hier hat jemand keine Kenntnis von zeitgenössischen feministischen Diskursen und unterstellt „den“ Feministinnen (als wäre dies eine homogene Gruppe) klischeehaft obsolete Denkweisen.
Schwarz-Gelb soll nicht nur für Frauen stehen, die sich schick kleiden (als hätte Frau unter Rot-Schwarz oder Rot-Grün noch lila Latzhosen getragen), sondern auch allgemein für „Neue Eleganz“ und „Stil“ (Burkhardt). Denn die „fast schon sozialistisch anmutende Uniformität bundesdeutscher Wohnungen mit Billy-Regalen, in denen Genossen ihre Blechtrommel aufbewahrten, wird durch Designerunikate aus dem Antiquariat oder vom Schreiner ersetzt.“ Es wird so getan, als hätten die Jahrzehnte zwischen 1968 und 2009 nicht existiert, als wären die schwarz-gelben Protagonisten die ersten Menschen mit Geschmack seit den Zeiten von Hippiematte und Hosenrock.
Die gelb-schwarze Koalition hat – äußerlich – nichts mehr gemein mit dem muffigen Ambiente früherer konservativer Regierungen. Sie gibt sich modern – am besten verkörpert durch den CSU-Jungpolitiker zu Guttenberg – ohne dabei jedoch, wenn man hinter das derzeit aufgezogene Stil-und-Geschmack-Theater blickt, ihr reaktionäres Potenzial mitsamt ihrer Klientelpolitik einzubüßen. Denn nicht dem neuen Bürgertum zuzurechnen sind all jene, die es nicht zum „Leistungsträger“ (Norbert Bolz) gebracht haben und folglich ein Leben als Leistungsempfänger in geschmackloser Kleidung und mit tristen Möbeln fristen – alimentiert und umsorgt von den staatlichen Institutionen.
Die Frage, wie diese dichotome Welt von wohlhabenden, kunstsinnigen Leistungsträgern und tumben, niveaulosen Leistungsempfängern überhaupt entstehen konnte, stellen sich die Protagonisten des neuen Zeitgeistes nicht. Die neue Avantgarde ist für sie Ergebnis eines quasi nietzscheanischen Akts – geboren aus dem puren Willen zum Erfolg. Als sei der Umstand, ob man in Lohn und Brot steht, lediglich eine Frage von Wille und Leistung.
Arbeitsmarktstrukturelle Argumente finden sich nicht bei Bolz oder dem medial omnipräsenten Philosophen Peter Sloterdijk. Alle wichtigen Arbeitsmarkt-Debatten der letzten Jahre – vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (immer weniger produzieren immer mehr) bis zur Unmöglichkeit einer Vollbeschäftigung – scheinen spurlos an ihnen vorbeigegangen zu sein. Stattdessen werden deplatzierte sozialdarwinistische Begriffe wie „nicht lebenstüchtig“ (Bolz) verwendet.
Dass sich die Elite in Deutschland wie nirgends sonst in den Industrienationen vor allem aus sich selbst rekrutiert, wie regelmäßig OECD-Studien belegen, spielt für die schwarz-gelben Vorbeter keine Rolle. Nirgendwo in Europa, außer in Lettland, sind die sozialen Schichten so wenig durchlässig wie hier, dennoch wird stur behauptet, unsere Gesellschaft sei zu egalitär geworden, bei uns würde dem Gleichheitsgedanken zuviel Bedeutung beigemessen.
Wenn Leistung und Erfolg angeblich nur Produkt des eigenen Willens und nicht auch von strukturellen Faktoren abhängig sind, wie Norbert Bolz mit seinen „Leistungsträger“-Anrufungen nahelegt, dann dürfen im Gegenzug auch die sozialen Leistungen kein Recht, sondern nur eine Gabe sein. Da ist es nur konsequent, wenn Sloterdijk wieder ins 19. Jahrhundert zurückgehen möchte – vor Bismarcks wegweisende Sozialgesetze (1883-1891), als die Versorgung der Alten, Kranken und Bedürftigen noch ein Akt der Barmherzigkeit darstellte. Sloterdijks provokantes Plädoyer für eine Abschaffung der obligaten Steuer zugunsten einer Zahlung auf freiwilliger Basis entspricht diesem vorbürgerlich-idealistischen Weltbild, auch wenn sich der Karlsruher Philosoph, wie stets, einer originellen Sprache bedient, die seinen abwegigen Thesen auf den ersten Blick einen modernen Touch gibt.
Erstaunlich an diesen Thesen ist weniger ihr reichlich altbackener Inhalt als der Umstand, dass derzeit ernsthaft über sie debattiert wird. Tatsächlich beginnen bereits Geistesgrößen in namhaften Zeitungen über das Wesen der Barmherzigkeit herumzugrübeln und Sloterdijks „Aufbruch der Leistungsträger“ in eine Genealogie mit Hegel und Humboldt zu setzen – womit ihm wirklich zuviel Ehre zuteil wird.
Dem Karlsruher Enfant terrible ist es mit seinen ach so utopistischen Ideen gelungen, eine ganze Debatte loszutreten, und zwar über das absurde Sujet der „geknechteten“ Elite, der beraubten Leistungsträger. Doch über Hartz-IV-Empfänger, über die kontinuierliche Reallohnsenkung, die gewachsene und nicht geschrumpfte Diskrepanz zwischen Arm und Reich, über die Tatsache, dass in Deutschland mehr als jedes fünfte Kind in Armut aufwächst – das heißt, über wirkliche und nicht eingebildete Probleme – darüber spricht derzeit niemand.