veröffentlicht in Jungle World, Mai 2012
Olga Tokarczuk ist eine der meistgelesenen Gegenwartsautorinnen in Polen. Für ihre Geschichten lässt sie sich ebenso von C. G. Jung wie von Astrologie und Mystizismus anregen. Gerade ist ihr neuer Roman erschienen.
Wenn man Olga Tokarczuk trifft, hat man sofort das Gefühl, einem besonderen Menschen gegenüberzustehen. Ihre große Sensibilität merkt man ihr schnell an. Auf sympathische Weise wirkt sie ein wenig verloren, entrückt, als sei sie in Wirklichkeit gerade ganz woanders. In irgendwelche Schemata passt sie nicht: Sie trägt Dreadlocks und wirkt zugleich mondän und exzentrisch. Die meiste Zeit des Jahres verbringt sie zurückgezogen in einem polnischen Dorf in der Nähe von Breslau. Aus ihrem Pass geht hervor, dass sie in diesem Jahr erstaunlicherweise 50 Jahre alt geworden ist. Olga Tokarczuk ist die berühmteste Autorin der jüngeren Generation in Polen.
Tokarczuk wurde 1962 in Sulechów geboren. Bevor sie als Schriftstellerin Karriere machte, studierte sie Psychologie in Warschau und arbeitete in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche, später auch als Therapeutin für Erwachsene. Ihre literarischen Arbeiten sind nach eigener Aussage stark von den psychologischen Theorien C. G. Jungs beeinflusst. Ihr Romandebüt »Die Reise der Buchmenschen« erschien 1993 und wurde von der Gesellschaft der polnischen Buchverlage als bestes Prosadebüt ausgezeichnet. Der Roman beschreibt die Suche zweier Liebender nach dem »Geheimnis des Buches« und ist im Frankreich des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Er machte sie schlagartig bekannt. Der Nachfolgeroman »E. E.« (1996) nennt im Titel die Initialen seiner Protagonistin, einer jungen Frau namens Erna Eltzner, die in einer bürgerlichen deutsch-polnischen Familie im Breslau der Vorkriegsjahre aufwächst und übermenschliche Fähigkeiten entwickelt. Ihr dritter Roman, »Ur und andere Zeiten« (1996), wurde für den höchsten polnischen Staatspreis, den Nike-Literaturpreis, nominiert. Die Handlung spielt in dem fiktiven Städtchen Ur in Ostpolen, das von exzentrischen Gestalten bevölkert wird. Das Leben der Bewohner von Ur wird aus Sicht der vier Erzengel Raphael, Uriel, Gabriel und Michael erzählt, unter deren Schutz das Städtchen steht.
Der in Deutschland lebende polnische Schriftsteller Artur Becker (»Das Herz von Chopin«) meint, dass sich die polnische Prosa weniger als die deutsche an der Erzählung orientiere, sie sei »poetischer und essayistischer zugleich«. Marcel Reich-Ranicki störe sich daran, aber ihm gefalle es, sagt Becker. Oft scheint in der polnischen Literatur ein zeitlich oder geographisch fernes Arkadien auf, eine mythische andere Welt. Olga Tokarczuks Prosa sei ein gutes Beispiel hierfür, obwohl sie natürlich eine ganz individualistische Schriftstellerin sei. Ihre Romane »Taghaus. Nachthaus« und »Unrast« zeigen das beispielhaft. In »Taghaus. Nachthaus« geht es um die Dorfbewohner in den Sudeten, der Wahlheimat der Schriftstellerin. Ein Mann träumt von einem Autounfall, am nächsten Tag ereignet er sich genauso, wie er es geträumt hat, nur dass es jemanden anderen trifft. »Unrast«, eine Collage aus Biographien von Reisenden, ist eine Parabel über die Flexibilisierung und Moblität im heutigen Polen. Für den Roman erhielt Tokarczuk 2008 den Nike-Preis.
Der ehemalige polnische Staatspräsident Jaroslaw Kaczynski von der nationalkonservativen Partei »Recht und Gerechtigkeit« hat sich in einer längeren Passage seines 2011 erschienenen Buches »Das Polen unserer Träume« abfällig über die Schriftstellerin geäußert. Olga Tokarczuk sowie ihr ebenfalls erfolgreicher Schriftstellerkollege Andrzej Stasiuk seien »zu Geiseln ihres ökonomischen Erfolgs in Deutschland« geworden. Ihre Bücher seien für den deutschen Buchmarkt geschrieben und gänzlich unpatriotisch.
Tokarczuk hatte Polen als »fremdenfeindliche Gemeinschaft« kritisiert, die sich selbst »als homogen, katholisch und national bezeichnet«. Zudem herrsche in Polen immer noch eine anachronistische Vorstellung von Patriotismus: »Es ist ein Patriotismus, der aus der Katastrophe entsteht«, so die Autorin. Sie bedauert zudem, dass es in Polen »so gut wie keine starke links orientierte Partei gibt.« Allerdings sieht sie auch Anlass zu Optimismus: »Auf der anderen Seite kann man deutlich ein Stärkerwerden der Zivilgesellschaft beobachten – für mich ist das wie ein Wunder, nach 50 Jahren Kommunismus.«
Die Vorwürfe Kaczynskis, die ihr viel Aufmerksamkeit bescherten, konterte sie mit Tatsachen. Ihre Bücher seien auch und vor allem in Polen Bestseller und überdies in viele Sprachen übersetzt worden. In ihren Romanen und Erzählungen hätte sie überdies eigentlich immer über Polen geschrieben, es seien Heimatromane der anderen Art.
Ihr neuer Roman »Der Gesang der Fledermäuse« (2009) ist eine Art Antiheimatroman über die schlesische Bergwelt und zugleich Krimi, Sozialstudie, Sittenporträt, schräge Liebesgeschichte und philosophischer Essay über das fragwürdige Verhältnis des Menschen zu Tieren und zur Natur. Die Protagonistin ist eine »verrückte Alte«, eine ehemaligen Bauingenieurin und melancholische Rentnerin mit Liebe zur Poesie. Sie übersetzt gemeinsam mit einem Studenten den Dichter und Naturmystiker William Blake. Für die Dorfbewohner denkt sie sich eigene Namen aus. Sie hat ein enges Verhältnis zu Tieren, scheint sich ihnen näher als der menschlichen Gattung zu fühlen, ihre beiden Hündinnen bezeichnet sie als ihre Töchter. Ansonsten blickt sie gern in die Sterne, lässt sich von der Astrologie leiten. Die Handlung ist in einer Randregion angesiedelt, im polnisch-tschechischen Grenzgebiet, einer abgelegenen, verkarsteten Gegend, am Rand der EU. Die Beschreibungen von seltsamen Menschen eröffnen eine ebenso geheimnisvolle wie spannende Geschichte. Eine Mordserie sorgt für Unruhe im Dorf. Die Opfer sind zumeist Jäger oder Wilderer. Die Alte bemerkt, dass immer Tierspuren in der Nähe der Opfer zu finden sind … »Der Gesang der Fledermäuse« soll demnächst unter der Regie von Agnieszka Holland verfilmt werden. Beim Lesen hat man bereits all die Bilder vor Augen, die dunklen Wälder, die einsame Siedlung auf dem Hochplateau, Fledermäuse vor dem leeren Himmel. Bildmächtiger als das Buch kann der Film wohl kaum werden.
Olga Tokarczuk: Der Gesang der Fledermäuse. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Schöffling-Verlag, Frankfurt/Main, 2011, 352 Seiten, 22,95 Euro
© Tanja Dückers, April 2012