Internationaler Kriegskinderkongreß 2005 in Frankfurt am Main
Berliner Zeitung, 19. April 2005
Mit so viel Zulauf hatten die Veranstalter nicht gerechnet: 600 Besucher kamen nach Frankfurt am Main, um am „Internationalen Kriegskinderkongreß 2005“ teilzunehmen. Es war die erste Tagung, die jemals dieser spezifischen Thematik gewidmet wurde. Was ist nun hinter den dicken Mauern im ehemaligen IG-Farben-Gebäude besprochen worden, was sind die Ergebnisse dieser Zusammenkunft? Zunächst: Allerorts ist spürbar, daß es ein enormes Bedürfnis nach Aussprache und Klärung der eigenen Biographie gibt. Für viele dieser heute 60-75jährigen ist die eigene Lebensbilanzierung eine sehr wichtige Angelegenheit. Nach Kindererziehung bzw. Karriere und Pensionierung ist jetzt mehr Zeit für Rückblicke vorhanden, verdrängte Erlebnisinhalte drängen oft stärker ins Bewußtsein. Ein Ergebnis des Kongresses ist die Gründung zahlreicher Gesprächszirkel in verschiedenen Städten. Man muß allein die Anstrengung vieler in der Annäherung an autobiographische Erfahrungen oft nicht gerade geübter Männer der älteren Generation, honorieren. Aber diese individualpsychologisch vollkommen einsichtigen Motive sind, wie Micha Brumlik – Direktor des Fritz-Bauer-Instituts – in seinem Abschlußvortrag zu bedenken gab, nicht ausreichend, um eine politische Instrumentalisierung, einen großen öffentlichen Diskurs mit viel medialem Tamtam und – vielleicht – Neubewertungen und Relativierungen von Schuld und Verantwortung zu initiieren. Die Publizistin Helga Hirsch sprach in der Abschlußdiskussion wörtlich von einer „notwendigen Abkopplung dieses Leidens von der historischen Schuld der Nation“. Im innerfamiliären Rahmen wäre es natürlich verkrampft, die eigene Mutter nicht zunächst als Familienmitglied, sondern in erster Linie als „Tätergenerationsrepräsentantin“ anzusehen – wie es Ende der Sechziger bisweilen getan wurde. Dem mag man – bedingt – zustimmen.
Aber: Steckt in solch einer Aussage nicht eine Aufforderung zur Entkontextualisierung? Kann man jenseits vom eigenen Kaffeetisch „das deutsche Leid“ wirklich abgekoppelt von der historischen Schuld betrachten? Und sollte diese denn nicht auch beim intimen Gespräch zu Hause als Wissen und Kontext präsent sein? Die Losung der NPD „Alle Opfer sind gleich“ (2005, Klaus-Jürgen Menzel, NPD-Landtagsabgeordneter in Dresden) ist hier anschlußfähig.
Um nicht gleich in Hysterie zu verfallen: Von der neu gekürten „Kriegskindergeneration“ (auf dem Kongreß einmal, sehr zum Mißfallen des Publikums, aber historisch genauso berechtigt, als „HJ-Generation“ bezeichnet) wird keine Gefahr für das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik ausgehen. Diese neue Spielart des Opferdiskurs scheint hier wirklich eine individual- und familientherapeutische und somit verdienstvolle Note zu haben. Aber als Politikum ist dieser Diskurs nicht harmlos, denn nolens volens liefert er antidemokratisch Gesinnten Argumente -, und – das Lieblingswort auf diesem Kongreß – Gefühle.
Auf dem Abschluß-Podium fallen dann auch Bemerkungen über die „Lektionen“ (Lutz Niethammer), die die Deutschen lange über den Holocaust und ihre schuldhafte Verstrickung gelernt hätten, und, auf der anderen Seite, „die eigenen Gefühle“, ergo das deutsche Leid, die sich jetzt auch einmal Gehör verschaffen. Lektionen und Gefühle. Also doch: Pflicht und Kür. Offizielles Erinnern und politisch korrekte Gedenkkultur versus privates Erinnern (Harald Welzer) an das eigene Opfer. Auch wenn allerorts „Ambivalenztoleranz“ (Micha Brumlik) eingefordert wird: „Schuld“ und „Unschuld“ bzw. Täterschaft und Opfer-Sein in Personalunion zu akzeptieren ist eben doch sehr schwierig. In der Psychoanalyse wird die Fähigkeit zur Ambivalenztoleranz als Signum für den reifen, erwachsenen Menschen im Vergleich zum Kind oder Pubertierenden beschrieben. Der Begriff „Kriegskind“ könnte in dieser Ambivalenzfrage als ein wichtiges Bindeglied fungieren, denn im Dritten Reich wurden viele Kinder „unschuldig schuldig“: Sie übernahmen Vorurteile, denunzierten andere und profitierten von Arisierungen, aber sie sind weder juristisch noch moralisch „schuldig“.
Über dem Kongreß schwebte ein Hauch von Weltfremdheit: Eine Generation tauschte sich über Erlebnisse aus, die gut 60 Jahre zurückliegen, und erwähnte mit kaum einem Wort rechte Tendenzen der Gegenwart, stellte keinerlei Zusammenhang zwischen den europäischen Einigungsproblemen des 21. Jahrhunderts und dem größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts her. Die Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg, die wachsende Anzahl antisemitischer Übergriffe und das unsichere Leben vieler Ausländer in „national befreiten Zonen“ fanden kaum Erwähnung. Aber auch die „Ossi-Thematik“ ist, wie Karol Sauerland, Referent aus Warschau, beklagte, völlig unter den Tisch gefallen. Die östlichen Nachbarstaaten spielten auf dem Kongreß ebenfalls kaum eine Rolle, dabei hätte es bei einem „Internationalen Kongreß“ mit dem Untertitel „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa“ auf der Hand gelegen, mehr Referenten aus eben diesen Ländern einzuladen und den intragenerationellen Dialog über die Landesgrenzen hinweg zu fördern. Eine große Selbsthilfegruppe hat sich in Frankfurt am Main zusammengefunden, die in erster Linie – trotz der beträchtlichen Lebenserfahrung ihrer Mitglieder, wie man nicht müde wurde zu betonen – um sich selbst kreist. Wie sehr man den Blick auf sich selbst richtet, wurde noch einmal in der abschließenden Podiumsdiskussion deutlich:
Neben sechs deutschen Generationsrepräsentanten saß ganz am Rande der „Quotenpole“. Während der Moderator den anderen Diskutanten den Status eines „Kriegskindes“ zubilligte, wurde über den Polen gesagt: „Herr Sauerland vertritt hier die Außenperspektive.“ Wie jemand, der über sechzig Jahre alt ist und aus Polen stammt, in bezug auf den Zweiten Weltkrieg eine „Außenperspektive“ einnehmen soll, kann nur ein Rätsel bleiben, das man im freundlichsten Fall dem Moderator als kongreß-streßbedingten Lapsus durchgehen lassen mag.