Die Welt, 21. Dezember 2007
Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller hat zu seinen Lebzeiten so viel Anerkennung erhalten wie Heinrich Böll. 1972 wurde der Kölner Schriftsteller mit dem Nobelpreis geehrt. Sein größter Erfolg, die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974), verkaufte sich allein in Deutschland bis zum Jahr 2007 sechs Millionen Mal. Dreizehn Werke von Böll wurden verfilmt. Doch derweil scheint Böll ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei gibt es kaum einen Autor, der so gut über die bundesrepublikanische Nachkriegswirklichkeit, über den Ausgang und Ausklang des Kriegs, das Elend und die Hoffnungen der Nachkriegszeit bis in die bewegten und konfliktträchtigen Sechziger und Siebziger Jahre hinein informiert wie er. Und kaum einen Autor, dessen Bücher Themen und Stimmungslagen aufgreifen, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Im Gegenteil, sie sind virulenter denn je. Man müsste sogar sagen: Bölls Themen sind auf unheimliche Weise zu uns zurückgekehrt.
In seinem Roman „Fürsorgliche Belagerung“ (1979) setzt sich Böll anhand der Figur eines erfolgreichen Zeitungsverlegers und Verbandspräsidenten mit der um sich greifenden Terroristenhysterie, einem ausufernden Netz an Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungsmaßnahmen „zu Ihrem Besten“ auseinander. Auch rätselt der Vater, der sich bisweilen nicht ganz mit seiner hohen sozialen Stellung identifizieren kann – unschwer als ein Alter-Ego Bölls zu erkennen – , ob nicht sein eigener Sohn terroristischen Umtrieben anheim gefallen ist. Dass dieser nach dem Tod des RAF-Terroristen Holger Meins (1974) noch einem Kind den Vornamen Holger gegeben hat, macht ihn in der Nachbarschaft verdächtig. Ein beklemmendes Buch.
Auch die Verfolgung einer jungen Frau durch die Medien, deren ubiquitäre Präsenz die Protagonistin schließlich zu einer Verzweiflungstat schreiten lässt („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“), wirkt nicht gestrig. Oft müsste man nur Namen und Jahreszahlen austauschen. „Die ZEITUNG“, wie Böll sein fiktives, wenngleich an BILD erinnerndes Boulevardblatt nannte, wäre heute wohl ein digitales Medium.
Romane wie „Und sagte kein einziges Wort“ , „Haus ohne Hüter“ und „Billard um halb zehn“ aus den 50er Jahren beschäftigen sich mit dem Krieg und der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Diese Themen sind gerade in den letzten Jahren, wie man an der Vielzahl von belletristischen Titeln und Sachbüchern ablesen kann, wieder intensiv diskutiert worden. Ganze drei Jahre nach dem Krieg, als viele Menschen noch in Trümmern lebten, fühlte sich Böll schon unverstanden und konstatierte: „Mein eigentliches Gebiet ist ja offenbar der Krieg mit allen Nebenerscheinungen und keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören (…) das macht dich verrückt.“ Jetzt, über 60 Jahre später, sind diese Themen derart medial präsent, dass man eher das Gefühl hat, die Deutschen kämen nie los von dieser Zeit.
Dennoch ist Böll „Zeitverhaftetheit“ vorgeworfen worden – ein wenig nachvollziehbarer Punkt: Wenn Literatur wie ein Fernrohr in die Vergangenheit reicht und die Gegenwärtigen beredt über das Gewesene informiert, kann ich darin keinen Mangel sehen. Gute Bücher liefern immer eine präzise Analyse ihrer Epoche, betreiben sinnliche Geschichtsschreibung – im Vergleich zur scheinbar objektiven von Historikern. Für Angehörige einer jüngeren Generation sind Bölls Erzählungen und Romane ein unerschöpflicher Fundus an Alltagsgeschichte aus einer Zeit, die vor uns lag und doch auch unser Leben maßgeblich geprägt hat. Wenn man Böll liest, meint man diese Zeit spüren, hören und schmecken zu können. Der Vorwurf des „Waschküchenmiefs“ und der „Normaleleuteschreiberei“ (Ernst Herhaus) erscheint heute wie gestern überheblich. Manch jüngerer Schriftsteller liest Böll gerade um des Waschküchenmiefs willen. Bölls Figuren – ob es sich um Haushälterinnen oder Architekten handelt – folgen einem auf Schritt und Tritt; es ist unmöglich, sie zu vergessen.
Verteidigen muss man den Autor auch gegen den Vorwurf, „nicht schreiben, nur erzählen“ (Hermann Kesten) zu können. Mehrfach wurde geäußert, sein Stil sei zu wenig experimentell, nicht innovativ. Diese Kritik fand Widerhall in den anti-epischen Tendenzen der Literaturkritik sowohl in den Achtzigern als auch in jüngster Zeit nach dem Abflauen des „Neuen Erzählens“.
Es ist offenbar ein unausrottbares Vorurteil, dass etwas, das sich gut liest, keinen Wert haben kann. Böll ist nicht nur inhaltlich interessant (das habe ihm auch seine Kritiker immer zugestanden), sondern auch sprachlich genau, treffend und stets seinem Sujet angemessen: von erich-friedhafter Sentimentalität keine Spur. Der Romankonstrukteur und -architekt Böll ist unterschätzt worden: Bücher wie „Gruppenbild mit Dame“ (1971, hierfür hat Böll ein Jahr später den Nobelpreis erhalten) sind komplexe Montagen aus dokumentarischem und fiktionalem Material und keineswegs konventionell gestrickt. In dem schon erwähnten Roman „Fürsorgliche Belagerung“ wird kapitelweise aus Sicht verschiedener Figuren berichtet – um ein Beispiel für antilineare Handlungsentfaltung zu geben. Aber auch das vermeintlich so schlichte und offenbar nur amerikanischen Schriftstellern gestattete Erzählen bewundere ich. Und nicht nur ich: „Am meisten bewundere ich die Einfachheit, Klarheit, Genauigkeit seiner Sprache. Er macht keine Sprüche und er versucht niemals zu bluffen“, schrieb Carl Zuckmayer über Böll.
Der einzige substantielle Vorwurf stammt von Hans Erich Nossack. Der um einiges ältere Schriftsteller (1901-1977) befand, dass Bölls Werk zu sehr auf Versöhnung und Harmonie ziele. Der Roman „Ansichten eines Clowns“(1963) war für ihn misslungen, weil „ungefährlich“. Das „metaphysische Phänomen“ des Clowns habe Böll „stümperhaft verhunzt“, befand Nossack (zitiert nach Heinrich Vormweg). Hier, ahnt man, scheint ein existentialistischer Anspruch auf, dem Böll nicht genügen konnte. Wenngleich Böll nicht vorgehabt hatte, solch eine Strenge in seinem Werk zu verankern und ihm dies von seinem Wesen her widersprochen hätte: Ein bisschen harmlos wirkt Bölls Werk manchmal schon. „Bösartig war Böll nie“ stellt auch Rudolf Walter Leonhardt in seinem Portrait des Schriftstellers anlässlich von dessen 80. Geburtstag (ZEIT, 52/1997) fest.
Wie schnell ein Schriftsteller im Zuge einer gesellschaftspolitischen Zeitenwende in Misskredit geraten kann, war in den letzten Jahren bedrückend zu verfolgen: Ich spreche von der retrospektiven Auseinandersetzung mit den Achtundsechzigern. Die teilweise berechtigte Kritik nahm schnell Züge eines Bashings an – plötzlich waren die Achtundsechziger an allem schuld, von Bildungsmisere über leere Rentenkassen und dem Dauerbrenner Werteverfall – . Selbst Bölls Einsatz in Fragen des Umweltschutzes fand man auf einmal lächerlich. Heute, nur wenige Jahre später, ist dieser unter dem modischen Label „Klimaschutz“ längst wieder salonfähig geworden. Doch Böll als angeblich linksradikaler Schriftsteller passt bestens in die Stimmung gegen jeden, der in dem Jahrzehnt von 1967 bis 1977 in irgendeiner Weise aufgefallen war. Dabei wurde vieles übersehen: Gerade die linken Ideologen ärgerten sich damals über Böll, weil er an einem Primat der Literatur über der Politik festhielt (nachzulesen in seinem Essay „Versuch über die Vernunft der Poesie“). Diesen Essay, der dem damaligen Zeitgeist nicht entsprach, bezeichnet der Böll-Biograph Heinrich Vormweg als „Glaubensbekenntnis an die Poesie, die Literatur und ihre Unentbehrlichkeit für die Menschen“. Für Böll war Politik an Literatur gebunden und nicht letztere Mittel zum Zweck. In einer Zeit, in der nicht wenige vom „Tod der Literatur“ faselten, war seine Haltung von geradezu nostalgischer Romantizität.
Bölls Engagement für Brandt und dessen Ostpolitik, sein Eintreten für verfolgte Schriftsteller in Ost und West und für einen menschenwürdigen Umgang auch mit Terroristen schien ungeachtet dessen für viele Linke die wahre Bestimmung des Literaturnobelpreisträgers zu sein. Ärger handelte sich Böll auch damit ein, sich nicht parteilich zu binden. Böll stand Brandt nahe, aber der SPD nicht vor Brandt, und es ist auch von ihm überliefert, gesagt zu haben, dass Brandt eine singuläre Erscheinung gewesen sei. Diese Haltung, zu konkreten gesellschaftspolitischen Fragen Stellung zu beziehen, sich aber hierbei von niemandem vereinnahmen und funktionalisieren zu lassen und als Schriftsteller seine Unabhängigkeit zu bewahren und, hat mir stets imponiert.
Wenn man auf Böll zurückblickt, muss man auch an den Schriftsteller denken, der von der Polizei observiert wurde, der Hausdurchsuchungen erleiden musste und einer Verleumdungskampagne ausgesetzt war. Es gab Menschen, die „Kopf ab!“ für ihn forderten. Böll, der sich immer von den Methoden und Zielen der RAF deutlich distanziert hatte, wurde bis in den Bundestag hinein zum ideologischen Helfershelfer der Terroristen erklärt. Nur Brandt und einige wenige Mitglieder der SPD und der FDP verteidigten Böll. Nicht Böll war radikal, sondern die Zeit, in der er lebte.