Die Vakuumpumpe ist kein Küchengerät – Die Debatte über die Reform der Sexualpädagogik (Jungle World, 18. Dezember 2014)

Seit Beginn des Jahres tobt ein Kampf um die Vermittlung von sexueller Vielfalt im Bildungswesen. Auslöser war der neue baden-württembergische Bildungsplan für Schulen, der ab 2015 in Kraft treten und den veralteten „Sexualkunde-“Unterricht, angesiedelt im Fach Biologie, ablösen sollte. Stattdessen sollte fächerübergreifend „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Lernziel im Unterricht verankert werden – für alle Schulformen von der ersten Klasse bis zum Abitur.

Die Initiative war von den Grünen ausgegangen: Sie hatten vorgeschlagen, das Thema „sexuelle Vielfalt“ weg vom naturwissenschaftlichen Unterricht hin in den Ethik-, Sprachen- und Sozialkundeunterricht zu verlagern.

Ähnliche Ziele verfolgen auch nach wie vor SPD und Grüne in Niedersachsen. Im März forderten die Fraktionen, die „Kerncurriculae aller Klassenstufen“ so zu ergänzen, dass „die Lebenswirklichkeit von Menschen verschiedener sexueller Identitäten hinreichend Berücksichtigung und angemessene Behandlung findet“. Konkret stand in dem viel geschmähten Antrag: „Die unzureichende Thematisierung von Homo-, Bi-, Trans- und Inter- und Asexualität in Schulbüchern und im Schulunterricht führt dazu, dass homo-, bi-, inter- und trans- und asexuelle Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu wenig unterstützt werden und sich selbst als abweichend von der Norm erleben. Das macht es ihnen schwer, ein positives Selbstbild zu entwickeln.“ Projektgruppen wie das ehrenamtliche Netzwerk SchLAu (SchwullesbischeBiTrans*Aufklärung), „Mit Sicherheit verliebt“ über „Jugend gegen Aids“ (Schulprojekt „Positive Schule“) sollen – so heißt es im Antrag – mit Unterstützung des Landes Aufklärungsprojekte an Schulen durchführen können.

Auch in NRW gibt es derzeit ähnliche Vorschläge. So soll dort ein „Kondomführerschein“ erworben werden können. Denn die Zahl der Aidsopfer ist immer noch besorgniserregend hoch. Und ungewollte Schwangerschaften sind auch nach wie vor ein Problem, nicht nur in der sogenannten Unterschicht.

Gegen den Reformwillen hat sich bundesweit viel Unmut formiert: Kritiker stören sich an dem Lernziel „sexuelle Vielfalt“. Demonstranten zogen monatlich mit rosafarbenen und blauen Luftballons durch die Stuttgarter Innenstadt, um vor der „Frühsexualisierung“ zu warnen. Rosa und Blau, so sieht das Geschlechterweltbild der Demonstranten aus, bloß keine Zwischentöne! Auf den Plakaten las man Sprüche wie „Gender – seelische Vergewaltigung unserer Kinder“. Eine Initiative nennt sich „Besorgte Eltern“.

Der Realschullehrer Gabriel Stängle aus dem Nordschwarzwald – diese Gegend wird manchmal „Pietkong“ genannt, denn dort sind viele strenggläubige, pietistische Christen beheimatet – störte sich an der „Überbetonung“ der sexuellen Vielfalt und startete eine Onlinepetition: „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“. Rund 190.000 Unterzeichner hat er hierfür gewonnen, von denen sich offenbar niemand vorstellen kann, dass auch sein Kind betroffen sein könnte.

Stängle schrieb zwar, man dürfe die LSBTTIQ-Lebensstile (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer) nicht diskriminieren, aber er warnte sogleich: „Aus der gleichen Würde jedes Menschen folgt noch nicht, dass jedes Verhalten als gleich gut und sinnvoll anzusehen ist.“ Und er schürt erfolgreich Angst. So schreibt er, homosexuelle Jugendliche seien besonders suizidgefährdet und anfällig für Alkohol und Drogen, für HIV oder psychische Erkrankungen. Einige Unterzeichner meinten, dass man über Homosexualität „am besten gar nicht reden“ sollte oder nur, wenn man sie moralisch bewerten würde – als nicht erstrebenswert. Manche behaupteten, Toleranz gegenüber Homosexuellen wäre gleichbedeutend mit Intoleranz gegenüber christlichen Werten. Der baden-württembergische Kultusminister Stoch (SPD) erhielt viele E-Mails, in denen schöne Dinge standen wie: „Sie wollen, dass unsere Kinder nicht mehr fruchtbar sind“ oder „Homosexualität ist eine Krankheit“.

Explizit richten sich die Proteste auch gegen die Professorin Elisabeth Tuider, die an der Universität Kassel das Fachgebiet Soziologie der Diversität leitet. Ihre Schwerpunkte sind Genderforschung, Sexualpädagogik und Prävention von sexueller Gewalt. Anlass für den derzeitigen Ärger bietet das von ihr, Stefan Timmermanns und anderen Sexualpädagogen herausgegebene, für Lehrkräfte und Jugendarbeiter vorgesehenes Handbuch: „Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit“. Das Buch ist jedoch schon länger auf dem Markt, die 1. Auflage ist 2008 erschienen, bei JUVENTUS im renommierten BELTZ-Verlag. Gegen die junge Professorin ist ein wahrer shitstorm ausgebrochen, sie erhielt Mord- und Vergewaltigungsdrohungen, Akif Pirincci würde sie gern im „Knast verrotten“ sehen, die AfD-Politikerin und EU-Parlamentarierin Beatrix von Storch nennt sie „pervers“. Auch die FAZ mischte mit und meinte, in Titeln früherer Publikationen von ihr wie „Postmoderne Entgrenzungen“ Anzeichen einer Pädophilie fördernden Literatur finden zu können. Aber Tuider erklärte in einem Interview recht gelassen dazu: „Genderforschung und Sexualpädagogik kennen das Problem der Diffamierung (…) schon länger“. Für ihr Buch hatte sie Sexualpädagogen im ganzen Bundesgebiet um die Zusendung bewährter Unterrichtsmethoden gebeten, herausgekommen ist eine Materialsammlung für Schule und Jugendarbeit. Es handelt sich um ein wissenschaftliches Buch, allerdings kann man sich vorstellen, dass viele der Gruppenaufgaben nicht dem Mainstreamgeschmack eines wertekonservativen christlichen Bürgertums entsprechen. In dem Buch werden Begriffe wie Gang Bang oder Analsex erläutert und Fragen gestellt wie „Wo könnte der Penis sonst noch stecken?“. Es gibt darin Aufgaben wie den „Sex-Quiz“ ab 12 Jahren, darunter diese Fragen:

Was ist eine Vakuumpumpe?

a) Ein Gerät zur Zubereitung luststeigernder

Lebensmittel;

b) Eine Plastikpumpe zum Aufbau und zur Verstärkung der Erektion

c) ein Gummipuppen-Sterilisator.

Was ist gang-bang?

a) Sex in einer Gruppe von vielen Männern und Frauen;

b) Sex zu dritt;

c) Wenn eine Person mit mehreren Männern, die in einer 
Schlange anstehen, hintereinander Sex hat (urspr. Gruppenvergewaltigung).

Oder die Aufgabe „Das erste Mal“:

Altersstufe: ab 13 Jahren. Die Jugendlichen bilden Vierergruppen und ziehen vier Karten, auf denen verschiedene erste Male stehen. Neben das erste Mal Eifersucht, Händchenhalten oder Küssen gibt es auch das erste Mal Petting und das erste Mal Analverkehr. Die Jugendlichen sollen dann ein erstes Mal auswählen und es in frei gewählter Form (zum Beispiel als Gedicht, als Bild, als Theaterstück oder Ähnliches) darstellen.

Tuider erklärte die Themenbreite in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Die Jugendlichen geben die Themen vor – nicht die pädagogisch Tätigen. Und machen wir uns nichts vor: 70 Prozent der 13-jährigen Jungs und 30 Prozent der Mädchen sehen regelmäßig Pornografie – und haben Fragen dazu. Ob eine Schülergruppe über Prostitution, Oralverkehr oder Schmetterlinge im Bauch reden will, entscheidet sie selbst. Die Fachkräfte, die zumeist von außen in die Schulen kommen, finden in unserem Buch dann Vorschläge für Übungen, um mit den Teenagern darüber ins Gespräch zu kommen.“

Eine Grundregel ist im Übrigen: Jeder und Jede kann jederzeit aussteigen. Lehrpersonen müssen die Methoden auch nicht umsetzen, sie sind nicht verpflichtend.

Vorgeworfen wurden ihr auch der im Vorwort verwendete Satz, zur dekonstruktivistischen Sexualpädagogik gehöre die „Verstörung von Selbstverständlichkeiten“. Ihre Gegner meinen, „abnorme Sexualitäten“ würden hier absichtlich erzeugt werden. Aber der von Tuider und ihren Kollegen verfolgte Ansatz war, gängige Vorurteile zum Beispiel beim Thema Homosexualität in Frage zu stellen. „Verstören“ war im Sinne von „in Frage stellen“ gemeint. Dass das Buch vom Pro-Familia-Landesverband in Niedersachsen empfohlen wird, hat die Gegner besonders aufgebracht, denn Pro Familia – ein gemeinnütziger Verein – wird mit Mitteln des Bundes, der Länder und Kommunen öffentlich gefördert.

Der Protest gegen den Bildungsplan 2015 für „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ und Elisabeth Tuiders Handbuch ist mitnichten der erste dieser Art: Im letzten Jahr sorgte – ebenfalls in Baden Württemberg – ein für den Deutschunterricht vorgesehenes Buch für massiven Protest: Dirk Kurbjuweits Novelle Zweier ohne“ handelt von einem elfjährigen Jungen, der einen Seelenverwandten sucht. Den findet Johann schließlich in Ludwig. Ludwig lebt in der Nähe einer Brücke, von der schon mehrfach Lebensmüde gesprungen sind… Das Kultusministerium in Baden-Württemberg hatte „Zweier ohne“ (der Titel bezieht sich auf eine Segelpartie) eigentlich zur alleinigen Prüfungslektüre für Zehnte Klassen bestimmt. Bis christliche Kreise Einspruch erhoben. Es war ihrer Meinung nach anstößig, Sechzehnjährige einen Roman lesen zu lassen, in denen erotische Szenen und eine bedrückende Begegnung mit einem Selbstmörder vorkommen. Sie stellten die Tauglichkeit des „Sexbuchs“ (so „Topic“, ein christlicher Nachrichtendienst) wegen seiner erotischen Passagen und der „Störung der Totenruhe“ als schulische Pflichtlektüre in Abrede.  Prompt knickte die rot-grüne Regierung in Baden-Württemberg ein.

Schon in diesem Fall musste man die christlichen Moralhüter daran erinnern, dass die Bibel selbst voller Gewalt und verstörenden Szenen steckt und alles Andere als ein handzahmes Buch ist.

Die Protestwelle ist leider in einigen Fällen erfolgreich gewesen: Unlängst gab Grün-Rot bekannt, in Baden-Württemberg davon Abstand zu nehmen, „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Querschnittsthema in allen Fächern in den Bildungsplan aufzunehmen. Die Regierungskoalition präsentiert dafür jedoch eine neue Idee: Die bislang fünf Leitprinzipien im Bildungsplan sollen in „Leitperspektiven“ umbenannt und um eine sechste Leitperspektive – in der sehr allgemein für ‚Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt’ geworben wird, das wichtige Wort „sexuell“ aber fehlt – ergänzt werden. Unter dieser Überschrift soll Toleranz nicht nur gegenüber homosexuellen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen gelehrt werden, sondern auch gegenüber der sozialen Herkunft, Religion, Kultur oder Ethnie von Menschen. Das alles klingt nach arger Verwässerung, nach Ethikunterricht. Ob da von einem anderen, reformierten, fächerübergreifenden Sexualkunde-Unterricht noch etwas übrig bleiben wird? Vermutlich nicht.

Stängle, der Initiator der Pietconger Petition, ist entsprechend erfreut darüber, dass seine Sichtweise von der Politik eilfertig übernommen wurde: „Als Petitionsinitiative war es uns von Anfang an wichtig, dass sich die ‚Leitprinzipien’ gegen alle Formen der Ausgrenzung richten und nicht nur eine Interessengruppe überbetont wird.“

Die Abkehr von der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in der Schule ist eine gravierende Fehlentscheidung, denn unter Schülern ist Homophobie nach wie vor – Hitzlspergers Outing hin oder her – extrem verbreitet. So hat ein Lehrerkollege aus demselben Landkreis des Petitionsinitiators zu Protokoll gegeben, dass unter seinen Neunt- und Zehntklässlern „schwule Sau“ eine gängige Beschimpfung sei. Als er thematisierte, dass der ehemalige Außenminister Westerwelle homosexuell ist, war die Mehrheit seiner Klasse empört gewesen.

Das Einknicken von Grün-Rot im Ländle ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die linke Regierung im Süden kein Rückgrat und auch wenig Rückhalt hat und sich herumdirigieren lässt. Die Homoehe war mal ein Flagschiff von Rot-Grün gewesen.

© Tanja Dückers, Berlin, im Dezember 2014

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