veröffentlicht in Jungle World, Februar 2015
Die polnische Autorin Magdalena Parys erzählt vom geteilten Berlin nach 1945
Unterirdische Fluchttunnel zwischen der DDR und der BRD hat es einige gegeben. Einer, der berühmte »Tunnel 29«, wurde Thema eines Films. Der unterirdische Weg führte von einem Fabrikgebäude in der Bernauer Straße unter der Berliner Mauer hindurch zu einem Keller in der Schönholzer Straße und war 140 Meter lang. Im September 1962 flohen 29 Personen durch den Keller. Daher rührt der Name »Tunnel 29«. Dieser berühmte Tunnel, aber auch andere Fluchtwege haben die in Berlin lebende Deutsch-Polin Magdalena Parys zu ihrem Kriminalroman »Tunnel« angeregt.
Das Buch hat nach seinem Erscheinen im Jahr 2011 in Polen für Furore gesorgt. Die Autorin wurde für ihren aufwendig recherchierten, spannenden, mit plastischen Figuren und verrückten Ideen angereicherten Krimi in den Medien hochgelobt. Nun ist »Tunnel« gerade auf Deu-tsch erschienen.
Wovon handelt »Tunnel«? Die polnische Literaturkritikerin und Autorin Inga Iwasiów fasst den Inhalt des Romans so zusammen: »›Der Tunnel‹ ist ein Buch darüber, dass es immer jemanden gibt, der sich erinnert und die Dinge erzählt. In der Stadt – wie in der Natur – geht nichts verloren. Diejenigen, die etwas auf ihrem Gewissen haben, wird diese Tatsache nicht erfreuen – die Leser dafür umso mehr!«
Der Roman überrascht den Leser schon auf den ersten Seiten. Kaum dachte man, einen älteren, etwas wunderlichen Mann und seine Schwester als Hauptfiguren ausgemacht zu haben, wird der Mann ermordet. Es stellt sich bald heraus, dass sein Tod mit seiner undurchsichtigen Vergangenheit in Zusammenhang steht. Die Erzählung verläuft über mehrere zeitliche Ebenen: von den achtziger Jahren über Erinnerungen an die Zeiten des Krieges bis zur Gegenwart. Im Zentrum der Handlung stehen zwei ungleiche Brüder, einer lebt im Osten, der andere im Westen. Ihre Geschichte entfaltet sich in der Rückschau. Eine Frau steht zwischen ihnen, reist von Ost nach West, schmuggelt – unwissentlich – geheime Dokumente. Diese befinden sich jedoch nicht in den Torten, die die Frau fleißig transportiert, sondern in den Innentaschen ihres Kamelhaarmantels. Sie wird geliebt von dem einen Bruder, ausgenutzt von dem anderen. Einer der beiden beteiligt sich am Bau eines Tunnels unter dem geteilten Berlin.
Der polnische Lyriker und Publizist Leszek Szaruga sieht in dem Tunnel mehr als nur das Bauwerk für Fluchtzwecke: »Der titelgebende ›Tunnel‹ ist nicht nur eine Bezeichnung für einen Bau unter dem geteilten Berlin, sondern auch eine Metapher, die den Übergang zwischen dem kommunistischen System und der Demokratie beschreibt. Der Prozess der Wandlung, der scheinbar nur das ehemalige Ostdeutschland betrifft, greift weiter, in den Westen hinein. (…) Das Erfassen dieses Prozesses gehört zu den großen Vorzügen dieses Romans, der scheinbar auf das Beschreiben privater Schicksale konzentriert ist. Die feine Rekonstruktion der erstaunlichen Zusammenhänge, die die Figuren dieses Buches miteinander verbinden, gibt dem Leser die Möglichkeit, die komplizierte Geschichte Deutschlands nach 1945 kennenzulernen.«
Auch die bekannte polnische Publizistin Bry-gida Helbig meint, dass der Roman mit seiner Fluchtgeschichte die »unermessliche Neugierde der Menschen« zum Thema habe und über ein »Labyrinth schwieriger Zusammenhänge« berichten würde, »über die wir in Polen immer noch zu wenig wissen«.
Das Thema Grenzüberschreitung hat Magdalena Parys auch aus biographischen Gründen immer stark beschäftigt: 1984 emigrierte sie nach West-Berlin. In Polen wurde ihr Roman als Meilenstein der neuen Migrationsliteratur gefeiert: eine Polin, die wirklich in Deutschland angekommen ist, die nicht nostalgisch über Polen schreibt, sondern – gleichsam von innen heraus – über ein Kernthema deutscher Politik, die Teilung Deutschlands, die geheimen Verbindungen zwischen Ost und West. Das Magazin Polyticka urteilte: »Ein sensationelles Romandebüt! Dieses Buch leitet eine neue Etappe der polnischen Emigrationsliteratur ein.«
Die Autorin repräsentiert zugleich die polnische Community in Deutschland: In Berlin leben immerhin rund 200 000 Polen. Sie sind nach den Türken und Russen die drittgrößte Migrantengruppe in der Hauptstadt. Kaum ein Tag, an dem in Berlin nicht eine Lesung, ein Konzert oder ein Theaterstück mit Bezug zu Polen stattfindet. Das Polnische Institut Berlin und der Club der polnischen Versager sind subkulturell geprägte Treffpunkte der Polen, die längst das Leben in der Hauptstadt mitgestalten.
Im Roman geht es jedoch um mehr als die ungleichen Brüder in Ost und West: Der Tunnel wird auch benutzt, um geschmuggelte NS-Raubkunst zu transportieren, die Stasi und der amerikanische Geheimdienst mischen mit, NBC kauft die Filmrechte, um bei der Flucht ganz groß live dabei zu sein. Ein paar Kritiker wandten ein, dass einige Wendungen und Zufälle im Roman konstruiert erscheinen. Zugeben muss man, dass einige der Wendungen im Roman die Grenze des Unwahrscheinlichen streifen. Manche Figuren sind sich in der Vergangenheit schon mal begegnet, haben eine gemeinsame Geschichte, von der niemand etwas ahnt. Hierzu befragt, antwortet die Autorin, dass sie sich in diesem Fall auf die – ebenfalls in Berlin lebende – polnische Autorin Ewa Maria Slaska beruft, die ihr mal gesagt habe, »die Literatur darf alles«. Dieser Satz habe ihr als junge, angehende Autorin ein lang ersehntes Freiheitsgefühl und mehr Mut beim Schreiben vermittelt. Auch möchte sie große Geschichte anhand eines Mikrokosmos’ an Figuren aufzeigen. Tatsächlich ist nichts in »Tunnel« vollkommen absurd, die Autorin reizt nur die Grenzen des Wahrscheinlichen aus – heraus kommt ein filmreifer Roman, der auf keiner Seite langweilt.
Magdalena Parys: Tunnel. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. Prospero-Verlag, Münster, 2014, 339 Seiten, 18,95 Euro
© Tanja Dückers, Februar 2015