veröffentlicht auf ZEIT Online, September 2014
In den letzten Wochen nach den Sommerferien sind wieder Tausende von Fünfjährigen eingeschult worden. Noch nie haben so viele Unter-Sechsjährige ihren Schuleintritt gefeiert wie in den vergangenen Jahren. Denn nach dem PISA-Schock waren einige Experten der Auffassung, dass Wissensmängeln eher vorgebeugt werden könnte, wenn die Kinder früher in die Schule gingen. Auch erhoffte man sich hiervon, dass Kinder mit Migrationshintergrund schneller Sprachdefizite aufholen könnten. Mit Hilfe der Früheinschulung wollte man speziell die Kinder erreichen, die keine Kita besuchen. Soweit die guten Absichten. Vielleicht ging es aber auch eher darum, dem Arbeitsmarkt immer jüngere Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Dazu passt die (teilweise wieder aufgehobene) Reduzierung der Gymnasialschulzeit von neun auf acht Jahre. Außerdem reformiert man ja so gern im deutschen Bildungswesen. Um dann wieder alles rückgängig oder ganz anders zu machen. Als seien Schulen Experimentierfelder und Schüler Probanden.
1997 hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) das „Ziel einer frühzeitigen Einschulung“ beschlossen Eine Reihe von Bundesländern zog daraufhin den Stichtag nach vorn. Kinder, die bis zum 31. Dezember eine Jahres (anstatt bis zum 30. Juni) sechs Jahre alt wurden, wurden schulpflichtig. Doch Bildungsexperten und Eltern protestierten. Viele empfanden Fünfjährige noch als zu verspielt und zu unkonzentriert für den Schulbetrieb. In Berlin wurde im letzten Jahr jedes 8. Kind (!) zurückgestellt. In der Schulanfangsphase (SAPH) hat sich die Verweildauer innerhalb der letzten acht Jahre verzehnfach (von 340 im Schuljahr 2006/07, auf aktuell 3828).
In einigen Bundesländern wurde wieder zurückgerudert – die Schuleintrittsdaten variieren, manchmal ist es der 31. August, manchmal der 30. September, einige Bundesländer kehrten auch reumütig zum 30. Juni als Stichtag für den erfolgten sechsten Geburtstag zurück. Viele Kinder sind mit fünf Jahren noch nicht schulreif, sie bleiben öfter sitzen, erhalten weniger Gymnasialempfehlungen, entwickeln ein geringeres Selbstvertrauen durch Schulfrust gleich in den ersten Jahren. Viele Studien wie eine hessische Studie mit 10.000 Kindern oder die Hamburger LAU-Studie belegen dies. Dass Früheinschulung ein Irrweg ist, hätte man auch schon 2001 aus den ersten Pisa-Daten ersehen können (http://www.pisa-kritik.de/langfristig-nachteilige-folgen-einer-fruhen-einschulung). Die Länder, die bei der ersten PISA-Studie sehr gut abschnitten (Finnland, Schweden), schicken ihre Kinder erst mit sieben Jahren in die Schule. Die 15-Jährigen Finnen, die bei PISA so gut dastanden, haben ein bis zwei Jahr kürzer die Schule besucht als die 15-Jährigen der meisten anderen PISA-Staaten. Der Grund für ihren Erfolg ist, wie die Pisa-Kritiker zurecht festhalten, offenbar nicht in der Anzahl der Schuljahre, sondern in der individualisierten Unterrichtsgestaltung und der sehr effektiven Förderung von schwächeren Schülern zu finden. Außerdem: Spätestens wenn man sich um einen Studienplatz bemüht, fragt keiner, ob der Schüler 17, 18 oder 19 Jahre alt ist, sondern nur nach dem Notendurchschnitt.
Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin, warnte schon vor Jahren eindringlich davor, dass die Früheinschulung im schlechtesten Fall eine gesamte Bildungsbiographie nachteilig beeinflussen kann. Tatsächlich kann eine frühe Einschulung nicht nur den Schulerfolg verringern, sondern die Entwicklung eines Menschen dauerhaft nachteilig beeinflussen: Für seine berühmt gewordenen Langzeitstudie („The Logevity Project“), die mehrere Forschergenerationen beschäftigte, hat der Stanford-Psychologe Lewis Terman 1500 überdurchschnittlich intelligente, um 1910 geborene Jungen und Mädchen unter dem Aspekt ihres Einschulungsalter ausgesucht. ( http://www.fr-online.de/schule/langzeitstudie-zu-fruehe-einschulung-verkuerzt-das-leben,5024182,11610214.html
http://www.nytimes.com/2011/04/19/science/19longevity.html?pagewanted=all&_r=0 . Die „Termiten“ wurden acht Jahrzehnte lang detailliert zu verschiedenen Lebensbereichen befragt. Das Ziel war eigentlich, etwas über die Faktoren von Langlebigkeit zu erfahren. Doch in Bezug auf das Einschulungsalter ist die Studie zu alarmierenden Ergebnissen gekommen: Die Teilnehmer, die früh eingeschult wurden, hatten in ihrem gesamten Leben verstärkt mit Problemen zu kämpfen, unter Anderem überdurchschnittlich oft mit Alkoholmissbrauch. „Viele der früh Eingeschulten irrten als Erwachsene von einem ausgewogenen Weg ab und kümmerten sich zu wenig um ihre Gesundheit. Ihre Chancen auf ein langes Leben standen weniger gut“, konstatieren die Psychologen Howard Friedman und Leslie Martin von der University of California, die letzten mit der Studie betrauten Wissenschaftler. Im Schuleintrittsalter sehen sie sogar einen wichtigen Vorhersagewert für die Chancen auf ein langes Leben. Auch wenn viele der frühreifen Probanden trotzdem ein langes und gesundes Leben geführt hätten, „war doch unübersehbar, dass etwas sehr schief laufen konnte, wenn die Kinder zu schnell mit zu ehrgeizigen Ansprüchen konfrontiert wurden“, betonen die Psychologen und resümieren „dass Eltern ihre Kinder nicht mit fünf Jahren einschulen sollten, um ihnen einen „Vorsprung“ zu verschaffen“. Den Kindern fehle offenbar doch noch für ihre psychische und mentale Entwicklung die – oft unterschätzte – frei zu gestaltende Spielzeit. Der frühe Start, der nur die kognitiven, nicht aber die entwicklungspsychologischen Gegebenheiten berücksichtige, sei „ein Mythos, der in die Sackgasse führt“.
Dass Eltern und Lehrer in Deutschland verunsichert sind, braucht niemanden mehr verwundern: JÜL, nicht JÜL, G9, G8, nun – teilweise – optional G8. Gesamtschulen, Integrierte Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen. Alles wird ausprobiert, nebeneinander angeboten, Eltern Entscheidungen überlassen, die sich Schulbehörden und Senat nicht mehr trauen zu fällen. Alles ist optional, niemand hat mehr den Durchblick. Der Trend ist genau der Gleiche wie bei der fehlenden Beratung im Bereich der pränatalen Diagnostik, beim Sinn oder Unsinn bestimmter Untersuchungen: Ärzte bewerten nicht mehr, trauen sich kein eigenes Urteil mehr zu, sie bieten nur Dienste an. Eltern spüren sehr genau, dass diejenigen, die klare Vorgaben machen, sich ein Urteil zutrauen sollten (die letztendliche Entscheidung sollte immer bei den Eltern liegen), dies nicht deshalb tun, weil sie Liebhaber der großen individuellen Freiheit sind, sondern weil sie aus Angst, selber eine Fehlentscheidung zu fällen, keine Verantwortung übernehmen wollen. Diese Angst und Unsicherheit schlägt sich dann aber auch bei den ach so entscheidungsfreien Eltern nieder.
Was man sich jetzt anstelle dieser halbherzigen Lösung – ein bisschen Früheinschulung – wünschen würde, wäre eine klare Absage an den Schuleintritt mit Fünf (außer in begründeten Fällen von weit entwickelten Kindern) und ein Eingeständnis des Fehlers, dieses Experiment durchgesetzt zu haben – und nicht ein Herumlavieren, um das Gesicht zu wahren.
© Tanja Dückers, Berlin, im September 2014