Süddeutsche, 1. September 2005
Unter dem pseudo-agitatorischen Titel „Raus aus der Routine – Warum ich Wahlkampf mache“ beklagte sich die ansonsten von mir geschätzte Autorin Eva Menasse in dieser Zeitung über die allenorts laut gewordene Kritik an der Literaten-Parteinahme für die SPD. Mißmutig konstatiert sie die „gelangweilte Routine“, mit der in den Feuilletons die Frage gestellt wird: „Sind die Intellektuellen politisch genug?“ Auch beschwert sie sich, daß kaum ein Autor seine Absage an Günter Grass’ Bitte um Wahlkampfunterstützung für die SPD richtungspolitisch begründet hätte, sondern stets mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Idee der Parteienbewerbung durch Schriftsteller.
Nun, es wird Zeit, daß jemand ebenso mißmutig konstatiert, wie unendlich langweilig es ist, wenn junge Schriftsteller keine – eigene – politische Vision aus sich selbst oder ihrer Generation heraus entwickeln können und unter „politischen Engagement“ verstehen, einer alteingesessenen Partei, die biedere Realpolitik verkörpert, zu folgen.
Und noch etwas: Es ist allemal berechtigt, wenn Schriftsteller der aktiven Teilhabe am Wahlkampf grundsätzlich abschwören.
Wenn man bedenkt, wie mühevoll in früheren Jahrhunderten die Emanzipation der Kunst von der Religion gewesen ist (wie revolutionär war Da Vinci mit der Entwicklung der Zentralperspektive, die den Menschen und nicht Gott ins Zentrum der Anschauung rückte!), wenn man bedenkt, daß auch die versuchte Verpflichtung der Literatur auf Propagandazwecke in diesem Land erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit – 1945 bzw. 1989 – überwunden wurde, kann es einen schon wundern, wie leichtfertig Schriftsteller heute bereit sind, einer Partei anzudienen. Sie geben den Posten des neutralen Beobachters auf, obwohl sie doch auf ihrem ureigenen Feld, der Literatur, sehr gut politische Inhalte verhandeln können – kaum ein Werk von Weltrang, daß nicht gleichsam von innen heraus ein gesellschaftspolitisches Portrait liefert. Allemal eignet sich in Zeiten diffus gewordener Feindbilder und einer „neuen Unübersichtlichkeit“ ein komplexer Roman besser zur Kritik der Verhältnisse als ein „Diskussionsbeitrag“ oder eine geraffte Stellungnahme auf einem Forum (das Wort „Forum“ würde ich gerne zum Unwort des Jahres 2005 küren). Sich unisono einer Partei zur Verfügung zu stellen, bedeutet Ja-Sagen zu zig Positionen, denen man – für sich betrachtet – oft nicht zustimmen würde, das hat mit Unabhängigkeit des Urteils nichts mehr zu tun. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin auch von einer Partei gebeten worden, Wahlkampf für sie zu betreiben – einer Partei, der ich vermutlich meine Stimme geben werde. Ich habe abgelehnt. Nicht, weil ich unpolitisch bin, sondern gerade, weil ich politisch bin. Unter politisch sein verstehe ich bei einem Intellektuellen: politisch unabhängig sein.
Daß ältere Schriftsteller und Publizisten, die sich seit Jahrzehnten mit einer Partei identifizieren, sich diesem Engagement weiterhin verschreiben (G. Grass, J. Strasser) ist für mich dennoch nachvollziehbar. Rot-Grün ist für die Älteren ihr Generationsprojekt, sie haben es mitaufgebaut, mitgestaltet. Die älteren SPD-Unterstützer waren zumindest als Jüngere Dissidenten; vom oppositionellen Rand der Gesellschaft sind sie an ihre Spitze gerückt. Solche Gentrifizierungsprozesse sind ubiquitär und diskreditieren ein Projekt nicht – schon gar nicht in Retrospektive. Einem Willy Brandt haftete wirklich etwas Visionäres an, als er seine damals sehr umstrittene Ostpolitik einleitete, und die Grünen waren erst recht neu, anders, unkonventionell – politische Avantgarde. Doch die Jungschriftsteller, die sich nun für die SPD haben anwerben lassen, scheinen keine eigenen Visionen mehr zu haben. Nicht mal ein Hauch von Aufbegehren, von der Aufbruchsstimmung, die die Leute früher in Scharen zu den Roten oder den Grünen trieb, hängt in der Luft. Kosovo-Krieg, Hartz IV, Sozialabbau – sie machen mit. Schriftsteller für Hartz IV ! – das ist die junge Revolte von heute. Avantgarde? Was ist das? Die Schriftsteller brauchen und sollten nicht den Realpolitikern nach dem Mund reden! Man erhofft sich doch von ihnen ein Vorstellungsvermögen von einer anderen, besseren Zukunft – ein utopistisches Moment, ein visionäres Buch. Wenn Literatur sich mit Politik beschäftigt, sollte sie nicht den Status Quo bestätigen (dafür sind die Realpolitiker da), sondern den schlechten Ist-Zustand mit dem vergleichen, was möglich wäre. Gute Literatur verhält sich in diesem Sinne wie gute Musik: sie transzendiert die Realität und vermittelt für einen Moment die Aussicht auf ein besseres Leben. In den Initiativen für Brandt oder die Grünen flackerte zumindest solch eine Hoffnung auf. Welche Utopie in der Unterstützung für Hartz IV liegen soll, ist hingegen völlig schleierhaft. Die Jungen haben sich nun von jemanden, der ihr Großvater sein könnte und von seinem Weltbild vereinnahmen lassen, das spricht nicht gegen Grass, sondern gegen sie: so konservativ waren junge Schriftsteller noch nie. Anstatt wenigstens jenseits des etablierten Parteienapparats aktiv zu werden, setzt man sich lieber bequem auf den alten Gaul der Vor(vor)-Generation. Da winkt genug Medienaufmerksamkeit, und man hat nicht die Mühe, selber etwas auf die Beine stellen zu müssen. Es ist deutlich: da stehen nicht Visionäre, sondern Pragmatiker in der Reihe oder vielmehr: in Reih und Glied.