Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2003
Klappentext: Himmelskörper
Sie ist durchscheinend, aber nicht durchsichtig, jene besondere Wolkenart, nach der Freia seit Jahren den Himmel absucht. Der jungen Meteorologin fehlt einzig das Bild dieser Wolke für ihren Wolkenatlas, ein ehrgeiziges Projekt, mit dem sie bereits bei Vorträgen auf sich aufmerksam macht. Als Freia bei einer Zugfahrt unwillkürlich zum Himmel blicken will, bemerkt sie auf einem Bahnsteig unverhofft ihre Mutter. In fremder Umgebung wirkt auch sie fremd, und Freia fragt sich plötzlich, ob sie wirklich die verhuschte, ängstliche Person ist, die sie zu kennen glaubt. Gab es nicht verschwiegene Reisen zu Onkel Kazimierz nach Polen, war da nicht eine stille Jugendliebe?
Jetzt, da Freia selbst bald ein Kind erwartet, sieht sie sich und ihren Zwillingsbruder Paul stärker in einer Generationsfolge. Und als wie wenig später auch den Haushalt der Großeltern auslösen, beginnen Paul und sie sich gemeinsam zu erinnern. Aus Andeutungen der Großeltern von Krieg und Flucht aus Westpreußen über die Ostsee, aus dem Inhalt verstaubter Kartons oder aus von der Mutter manisch aufbewahrten Erinnerungsstücken scheint ein Familiengeheimnis durch, das sie ergründen müssen, um sich davon zu befreien.
Tanja Dückers ist mit ihrem Roman mehr als ein vielschichtiges Familienportrait gelungen. In nachhaltigen, bildkräftigen Szenen stößt sie zum dunklen Kern von Beziehungen und Erinnerungen vor.
Leseprobe: Himmelskörper
Verschwundene Zöpfe
Wenn ich geradeaus schaute, konnte ich verfolgen, wie meine Mutter mir einen Scheitel zog. Im Spiegel sah ich mein Gesicht zwischen meinen dünnen, erhobenen Armen und darum, wie ein weiterer, größerer Rahmen, die Arme meiner Mutter.
Ich trug hüftlange Haare, die meine Mutter mir flocht. Und ich fand es komisch, daß sie einerseits die Frisur bestimmte, andererseits aber auch ein bißchen in der Rolle meiner Dienerin war; daß sie meinen Kommentaren: „Hier ziept’s!“, „vorsichtiger“, „da wird’s schief!“ gehorchte und sich im wahrsten Sinne des Wortes die Finger wund flocht. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß Renate meine Haare viel länger bürstete, als es nötig gewesen wäre.
Längst fielen meine Haare glänzend und glattgebürstet herab, und doch hob und senkte meine Mutter ihren Arm immer wieder. Meine elektrisierten Haare stellten sich in der Dämmerung auf und sanken langsam nieder. Mein Haar war mir dann unheimlich, fremd. Es war ein verlängertes Körperteil, etwas, das noch ich und nicht mehr ich war. Etwas, das abbrechen und zu Boden fallen konnte, ohne daß ich Notiz davon nahm, etwas, das mich zum Aufschreien bringen konnte. Meine Mutter streichelte meine Haare, und ich wußte nicht, ob sie damit mich meinte oder nicht.
Wenn ich in unseren aufgeklappten Alibert-Spiegel guckte, sah ich uns beide unendlich oft gespiegelt. Dann fragte ich mich, ob Jo Renate, als sie klein war, auch die Haare gebürstet und Zöpfe geflochten hatte. Und ob meine Urgroßmutter Jo Zöpfe geflochten hatte. Im Spiegel meinte ich all unsere Gesichter, all unsere langen glatten Haare wiederzuerkennen. Einmal, als Renate mir die Zöpfe flocht, stand Jo plötzlich hinter uns.
„Das erinnert mich an früher“, meinte meine Großmutter sehnsuchtsvoll. Als sie mich später ins Bett brachte und mir einen Gute-Nacht-Kuß gab, zeigte sie mir ein Foto, das sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug: Es zeigte sie mit ihren beiden Schwestern. Sie standen in hellen, ärmellosen Sommerkleidern der Größe nach hintereinander, mit langen Zöpfen. Irgendeine größere Feier fand im Hintergrund statt, eine prunkvolle Kutsche wurde von Spalieren junger Männer flankiert. Meine Großmutter war jedoch nicht diejenige, die mit keckem Blick neugierig den Kopf wendete, wie ich zuerst annahm, sondern jenes kleine Mädchen, das schüchtern die Augen vor dem Fotografen niederschlug.
In den nächsten zwei Wochen löste meine Großmutter oft meine Mutter beim Kämmen und Flechten meiner Haare ab. Meine Mutter wollte aber ihre Aufgabe nicht an ihre Mutter abtreten, so daß regelrechte Kräche entstanden, wer mir denn nun die Zöpfe flechten durfte. Wenn Jo sich durchgesetzt hatte, erzählte sie mir, wie sie ihrer Schwester Lena die Haare geflochten hat und wie sie dann gemeinsam zu Festen oder Sportveranstaltungen, deren Namen ich nicht im Kopf behalten konnte, gegangen sind. Jo hatte lustige Geschichten aus dieser Zeit parat, die sie mehr als einmal „die glücklichste in meinem Leben“ nannte. Ausflüge, Ferienlager – meine Zöpfe brachten Jo dazu, von früher zu erzählen, ohne daß Paul und ich drängeln mußten: „Erzähl mal, als du Kind warst.“ Aber wenn man Jo später, beim Essen, beim Spazierengehen oder beim Patiencen-Legen, noch einmal zu diesen Erlebnissen befragte, dann schüttelte sie den Kopf und meinte nur dumpf: „Ach, darüber habe ich schon viel zuviel geredet. Lassen wir das.“
Insofern war es mir lieber, wenn Jo meine Haare flocht, weil sie dann zum Beispiel die Geschichte von dem Mädchen erzählte, das nicht singen konnte:
Jo war mit ihrer Schwester Lena und vielen anderen Mädchen in ein Feriencamp gefahren. Jeden Abend sangen sie am Lagerfeuer Lieder. Aber eines dieser Mädchen fing immer an zu weinen, wenn die anderen sangen, ohne daß sie das irgendwie erklärte. Erst am Ende des Ferien lagers, als die anderen Mädchen ihm versichert hatten, daß alles gut würde, daß die besten Zeiten für dieses Land anbrächen, die es je gesehen hätte, ob sie das denn nicht merken würde? Erst am Ende, als Jo und Lena diesem Mädchen Mut gemacht hatten, erzählte es, daß sein Vater im Krieg, gerade als er mit zwei Kameraden singend eine Landstraße entlangmarschiert war, von einem Schuß in den Rücken niedergestreckt worden war.
Der Kamerad, der überlebt hatte, hatte dies ihrer Mutter berichtet, um sie zu beruhigen: Ihr Mann hatte nichts geahnt, nicht gelitten, keinen Todeskampf ertragen, sondern war mitten „im Vergnügen“, wie durch einen plötzlichen Herzschlag, aus dem Leben gerissen worden.
Manchmal redete mich Jo sogar aus Versehen mit „Lena“ an, wenn sie so etwas erzählte.
Wer von beiden, Jo oder Renate, hinter mir stand, um meine Haare zu flechten, merkte ich auch bei geschlossenen Augen sofort an der Art, wie sie dies taten: Jo setzte zwei grobe Kämme gleichzeitig an meinem Scheitel an und zog sie in beide Richtungen fest nach unten. Binnen kürzester Zeit hatte ich einen millimetergenauen Scheitel, und meine Kopfhaut brannte von den Zinken der Kämme.
Meine Mutter hingegen faßte erst einmal vorsichtig in mein Haar, warf es auf und sortierte es vor. Dann legte sie sanft mit beiden Zeigefingern einen Scheitel, den sie langsam, kaum spürbar mit einem Kamm immer feiner nachzog.
Ich konnte auch merken, in welcher Verfassung sie waren, wenn sie sich über meinen Kopf beugten. Manchmal konnten Jo nur gellende Aufschreie davon überzeugen, daß sie ihren Ärger über Mäxchen, der ihr wieder zu langsam, zu begriffsstutzig oder zu faul war, an meinen Haaren ausließ. Wenn sie mit dem grobzinkigen Kamm über meine Ohren kratzte, war der Beweis eindeutig erbracht, daß meine Großeltern gerade im Clinch miteinander lagen.
Wenn wiederum Renate gar nicht aufhörte, meine Haare zu streicheln, und versuchte, mit ihren Fingern statt einem Kamm den Scheitel zu ziehen, wenn ihre Finger nicht nur über meine Haare, sondern auch über meine Ohren strichen, dann wußte ich, daß Peter zu oft nachts weggefahren und sie zuviel allein gewesen war.
Als Jo und Renate sich wieder einmal kurz angifteten, wer denn jetzt das Kämmen übernehmen sollte, stellte sich Paul zu ihnen und sagte, daß er auch gerne Zöpfe haben würde. Diese Idee war keineswegs abwegig, denn er hatte, der damaligen Mode entsprechend, schönes, volles, schulterlanges Haar. Tatsächlich widmete sich Renate dann Pauls Haar, mit dem Unterschied, daß sie Paul nicht zwei, sondern fünf in alle Richtungen abstehende Zöpfe flocht, die ihn sehr drollig aussehen ließen. Er konnte sich auf der Straße oder beim Einkaufen bald gar nicht mehr vor entzückten älteren Damen retten, und ich wurde eifer süchtig wegen der vielen Bonbons, die sie ihm zusteckten. Renates und Jos Verhältnis entspannte sich deutlich, als dieser zweite Kopf in ihr Visier geraten war, und Pauls Zöpfchen wurden ein gewohnter Anblick bei uns am Stadtrand.
Peter hatte dem Theater, das Renate und Jo um meine Haare machten, von Anfang an verständnislos gegenübergestanden; auch Jos abenteuerliche Geschichten schienen ihn nicht weiter zu interessieren. Aber die geckenhaften Zöpfchen seines Sohns wurden ihm irgendwann zuviel. Eines Nachts kam er in unser Zimmer und kitzelte Paul aus dem Bett. Dies war die geschickteste Methode, die vorgab, gewaltfrei zu sein, um meinen Bruder zu irgend etwas zu bewegen. Paul wand sich und schnappte nach Luft; als er erschöpft war, trug Peter ihn auf den Armen hinaus. Ich wunderte mich ein wenig und beschloß, den beiden heimlich zu folgen. Peter trug Paul quer durchs Haus, durch den Waschmaschinenraum, an der Kellertür vorbei und schließlich in die Garage. Ich war alarmiert: Wollte er mit Paul wegfahren? Wohin? Wollte er Paul stehlen und mit einer Elfe ein neues Leben anfangen? Ohne mich und Renate? Ich bekam solche Angst, daß mein Mund ganz trocken wurde und ich mich beherrschen mußte, um nicht in die Garage zu stürmen und loszuschreien. Aber es erklangen keine Motorengeräusche. Ich wagte es, noch weiter aus der Diele vorzutreten, stand in der Tür zur Garage und lugte hinein. Peter setzte Paul auf einen ölverschmierten Plastikstuhl und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann sagte er laut: „Schön stillhalten“, und hob eine riesige Heckenschere. Schnipp, schnipp fielen Pauls lange Haare auf den fleckigen Boden, und Paul schaute stumm und, wie mir schien, mit gemischten Gefühlen auf seine Haarpracht, die zu seinen Füßen lag. Am Ende schnitt Peter noch mit einer kleineren Haushaltsschere nach. Ich schaute atemlos zu. Paul sah mit dem kurzen Mecki-Schnitt auf einmal so anders aus. So anders als sonst, so anders als ich! Mich überfiel Wut auf meinen Vater. Wie konnte er es wagen, ohne Paul, ohne mich, ohne Renate gefragt zu haben …? Es war die Zeit, in der mein Vater gerade aufgehört hatte, violette Hosen mit Elefantenbeinen und orange-grüne Krawatten zu tragen, und plötzlich, der allerneuesten Mode entsprechend, enge Jeans, bedruckte T-Shirts und Lederjacken anzog. Ein paar Wochen zuvor hatte er entschlossen seine eigenen Haare ein Stück gekürzt.
Meine Mutter kleidete sich weniger nach der Mode und sah, seitdem ich denken konnte, immer unverändert aus in ihren marineblauen oder grauen Kostümen. Ihre blonden Haare färbte sie ein wenig in ihrem Naturton nach, über die Schatten, die sich unter ihren Augen ausgebreitet hatten, fuhr sie mit einem marmorfarbenen Stift.
Vor Wut zitternd, schlich ich zurück in unser Kinderzimmer. Ich zögerte nicht lange, und mir blieb auch nicht viel Zeit, denn gleich würde Peter Paul zurückbringen: Ich öffnete die Schublade meines kleinen Schreibtisches, fischte eine mit ausgelaufenem Uhu verklebte Bastelschere zwischen Geo-Dreieck und Heftzwecken heraus und trat vor unseren Spiegel.
Vor dem Schlafengehen hatte ich meine Zöpfe nicht gelöst, so daß alles ganz schnell gehen konnte. Ich setzte oben an der Kopfhaut an, und schon fielen die beiden fast einen halben Meter langen Zöpfe zu Boden. Ich hob sie auf, legte sie ordentlich auf meinen Schreibtisch, verstaute meine Schere wieder und setzte mich mit gefalteten Händen aufs Bett.
Das Schlafzimmer unserer Eltern war ein Ort, den wir Kinder nicht betreten durften. Hier schien die Zeit stehengeblieben: Nur Fotos von uns Kindern und von meinen Eltern aus der Zeit ihrer Hochzeit waren auf einem Stück bordeauxfarbenen Filz festgepinnt. Aus Renates Kindheit hatte ich nur ganz selten Fotos zu sehen bekommen – wenn Paul und ich besonders lange danach gequengelt hatten. Aus der glorreichen Zeit ihrer eigenen Zöpfe berichtete meine Mutter nie. Wenn sie mir die Zöpfe flocht, hielt sie die Zeit an und schwieg.
Manchmal, wenn meine Mutter mit müdem Gesicht aus der Schlafzimmertür trat, erhaschte ich im fahlen Licht einen Blick auf mein Haar. Ich erschrak immer wieder, wie meine beiden Zöpfe da losgelöst von meinem Kopf an der Wand hingen. Und meine Mutter öffnete mein totes Haar und flocht es wieder und wieder. Auf ihrem heiligen Stück bordeauxfarbenen Filz, im abgezirkelten Bereich ihres Schlafzimmers flocht sie hingebungsvoll meine Haare.
Einmal sah ich, wie meine Mutter mit ihrem kleinen Tischstaubsauger, einem grauen Plastikreptil, über meine Zöpfe fuhr. „Damit die nicht einstauben!“ sagte sie leise, als sie meinen Blick in der Tür bemerkte.v Meine Mutter hatte meine Zöpfe kommentarlos vom Schreibtisch und an sich genommen. Mit einer grimmigen Entschlossenheit, wie ich sie selten an ihr erlebt hatte. Sie setzte sich auch erfolgreich gegen Jo durch, die meine Zöpfe selbst gern nach Minden mitgenommen hätte. Jo lamentierte noch wochenlang, welch eine verrückte Göre ich sei, und schimpfte natürlich auch mit Peter. Und Peter schimpfte mit Renate und Jo, daß sie ihn niemals gefragt hätten, was er denn von den Zöpfen seines Sohnes hielte. Jeder schimpfte mit jedem. Und Paul und ich trauerten den aufregenden Geschichten nach, die wir jetzt leider nicht mehr zu hören bekamen.
Tanja Dückers, Kapitel „Verschwundene Zöpfe“ aus Roman „Himmelskörper“, Aufbau Verlag, Berlin 2003