aus „Hotel Europa“, Hg. Ilma Rakusa und Michael M. Thoss, Wunderhorn, Heidelberg 2012
Mein „Hotel Europa“ heißt „Europa Hotel“ und es ist das südlichste und das östlichste zugleich in ganz Europa. Und das einzige, das geographisch in Asien liegt und doch zur EU gehört. Zwischen dem europäischen Festland und der Insel, auf dem sich mein Europa Hotel befindet, liegt ein großes Land, das größtenteils nicht zu Europa gehört – die Türkei: es befindet sich auf Zypern.
Als ich überlegte, für welches „Hotel Europa“ ich mich entscheiden soll, fiel mir die Wahl schwer. Beinahe hätte ich mich für eines in Münster entschie- den, weil ich die Stadt, aus der ein Teil meiner Familie stammt, gut kenne und zunächst lieber über einen Ort schreiben wollte, den ich schon auf vie- len Ebenen durchschritten habe. Doch dann habe ich mich für eine Insel entschieden, die ich noch nie besucht habe, die nicht im Herzen Europas, sondern Europa vorgelagert ist. Mich interessierte die Teilung der Haupt- stadt Nikosia und des Landes selbst, bin ich (Jahrgang 1968) doch im Mauer- Berlin aufgewachsen. Vor Jahren war ich in Korea und hatte mich dort mit der Teilung des Landes beschäftigt. Später bereiste ich Rumänien und die Republik Moldau mit dem abtrünnigen de-facto-Staat Transnistrien. Die willkürlichen – Ränder Europas haben mich immer besonders interessiert. Es ist eine Binsenweisheit: All diese Trennungs- und Teilungsgeschichten sind vollkommen verschieden und unvergleichlich. Aber mir geht es nicht um eine politische Analyse, die ich mir nicht anmaße – als Schriftstellerin geht es mir darum, wie sich die Grenze hier, in der Hauptstadt Nikosia und ins- gesamt auf Zypern anfühlt, wie sich die beiden Landhälften voneinander unterscheiden, hier im letzten geteilten Land Europas.
Mit Zypern ist es so eine Sache: Die EU-Außengrenze verläuft nicht und doch hier – das Land ist ein Sonderfall in der EU – überhaupt in Europa: Zypern ist seit 1974 nach einem griechischen Putsch und einer türkischen Militärintervention geteilt. Formal gesehen gehört die gesamte Insel seit 2004 zur EU, obwohl seit 1974 der nördliche Teil von einem Nicht-EU-Mit-
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gliedsstaat, der Türkei, okkupiert ist. Das EU-Recht und Regelwerk gilt nur im griechisch-zyprischen Süden. Die „Türkische Republik Nordzypern“ (KKTC) ist international nicht anerkannt. Hier leben um die 90.000 türkische Zyprer und zwischen 100.000 und 150.000 Neuansiedler vom türkischen Festland sowie einige Zehntausend türkische Soldaten. Das Land gilt seit der Beset- zung 1974, der ein Exodus an griechischen Zyprern folgte, als militärisch hochgerüsteter de-facto-Staat – ohne die Hilfe der Türkei könnte er nicht überleben. In der„Türkischen Republik Nordzypern“ gilt die paradoxe Regel, dass die Bewohner einen EU-Pass besitzen, obwohl sie gleichzeitig über die türkische Staatsbürgerschaft verfügen. Im größeren südwestlichen Teil, der international anerkannten„Republik Zypern“, leben 660.000 griechische Zyprer und 110.000 ausländische Bewohner. Hinzu kommen noch 10.000 und 20.000 britische Soldaten (die genaue Zahl wird geheim gehalten) und deren Familien und an die 1.500 UNO-Blauhelme – 3 % des Landes gehören nach wie vor Großbritannien, 4 % sind UN-Pufferzone zwischen den verfein- deten Teilstaaten.
Schon an unserem ersten Abend in Nikosia sind die Symbole türkischer Sou- veränität nicht zu übersehen. Direkt vom Fenster unseres Zimmers im„Hotel Europa“ (auf griechischer Seite gelegen) blicken wir auf die Berge im Rücken von Nicosia. Und dort prangt – fußballfeldgroß – die Flagge der „Republik Nordzypern“ – es ist die größte Flagge, die ich je gesehen habe. Ich muss wieder an die eindrucksvollen bunten Briefmarken von kaum bekannten pa- zifischen Kleinststaaten denken, die mein Bruder und ich als Kind begeistert gesammelt haben. Uns schien: Je kleiner das Land, desto größer die Marken. Die deutschen, französischen, britischen oder die US-amerikanischen Brief- marken machten nicht viel her. Die türkischzyprische Flagge sieht aus wie die türkische, nur mit vertauschten Farben. Ein roter Halbmond mit Stern auf weißem Untergrund. Neben der gigantischen Flagge sind Halbmond und Stern noch einmal extra in Riesenformat nachgebildet – darunter steht in Buchstaben, deren Größe den berühmten Hollywood-Schriftzug mickrig erscheinen lassen würde: Es ist ein Glück, ein Türke zu sein. Atatürk. Wir kön- nen die Flagge, die Symbole und das Zitat vom Vater aller Türken so gut lesen, weil der Berghang nachts angestrahlt wird – für die griechischen Zy- preten in Nikosia und Umgebung also ein allabendliches„Vergnügen“.
Am ersten Tag laufen wir durch die moderne Innenstadt Nikosias, die ei- gentliche Altstadt hat man in kürzester Zeit besucht. Uns fallen die vielen britischen Kaufhäuser, wie Debenhams, auf. Oben auf der Sonnenterasse sitzt immer einige ältere britische Ladies mit Tee und Gebäck, die aus einer anderen Epoche zu stammen scheinen. Sie sitzen hier oben und scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Mit dem Fußvolk, das unten auf den Straßen wie Ameisen herumtippelt, haben sie nichts am Hut.
In der Altstadt gibt es jedoch auch, abseits der modernen Geschäftsstraßen, viele Läden oder Cafés, die so aussehen, als seien sie vor 50 Jahren eröff- net und seitdem nicht renoviert worden. Das hat seinen Charme. Manchen Läden ist beim besten Willen nicht anzusehen, was dort eigentlich feilge- boten wird: Hundefutter, Kosmetik, Hochzeitskleider, Gebäck oder Bücher? In einem wunderschönen alten Café hängen Fotos von britischen Kampf- flugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Teil der Gäste besteht aus alten Männern, die trotz der Temperaturen in verschlissenen Dreiteilern dasitzen und Zeitung lesen oder einfach, wirklich, Däumchen drehen. Einer raucht Zigarre. Das Gebäck schmeckt leider ebenso alt wie die antike Einrichtung aussieht, was ich sehr bedauere. An einem öffentlichen Platz stoße ich auf einen Baum, den ich erst für einen übriggebliebenen Christbaum halte. An dem Ästen baumeln blassgelbe Bänder. Bei näherem Hinsehen sehen ich die Fotokopien von Fotos von seit dem Bürgerkrieg Vermissten. Ich blicke auf die jungen Männer mit Siebziger-Jahre-Fönfrisuren. Die Zeit scheint still- zustehen. Ein Kalter Krieg eigener Prägung hält beide Landeshälften seit fast 40 Jahren in seinem Griff.
Wir schlendern weiter. Niemand beeilt sich hier. Beim Schuhe-Einkaufen gerate ich mit der Verkäuferin ins Gespräch. Wir sprechen Englisch, mein Griechisch beschränkt sich auf wenige Worte. Die Verkäuferin ist eine große, schlanke, energisch wirkende Frau, die sich sichtlich in dem vollgestopften und zumindest heute kaum frequentierten Schuhladen langweilt. Auf ih- rem Verkaufstisch liegt ein Stapel Bücher mit Lesezeichen und Eselsohren. Sie macht einen gebildeten, freundlichen, alles andere als radikalen Ein- druck. Dennoch, was die Türken anbetrifft, wirkt sie verbittert: „Auch ein Teil meiner Familie hat Häuser in Nordzypern verloren, die Leute wurden ja alle vertrieben. 200.00 Menschen, das ist beinahe jeder dritte zyprische Grieche. Eigentlich jede Familie hat ein Haus, Land oder ein Geschäft verlo- ren. Entschädigt wurde niemand für irgendetwas. Alles weg. Viele Familien haben ihre Existenzgrundlage verloren. Gerade in den Touristengegenden, die heute Geisterstädte sind, hatten viele in Hotel oder eine Gaststätte und lebten davon. Von heute auf morgen war alles weg. Lange Zeit durften wir nicht mal zurückfahren, in die alte Heimat – war ja für uns gesperrt. Jetzt dürfen wir reisen – aber nicht wirklich zurück.“
Wir trinken noch einen Tee zusammen, dann gibt sie mir die Schuhe für den halben Preis. Ich winke ihr noch, sie wedelt mir kurz mit einem Buch zurück.
Am nächsten Tag fahren wir an den Grenzübergang„Lidra-Straße“ in Nikosia. Er befindet sich mitten auf einer beidseitig belebten Geschäftsstraße. Auf den ersten Blick sieht die Grenze harmlos aus: Wachhäuschen, niedrige Ab- sperrungen, plaudernde Soldaten, so etwas wie Maschinengewehre sehe ich nicht. Auch keine hohe Mauer. Vor und hinter mir stehen Menschen, die nur eine Plastiktüte in der Hand halten, offenbar gehen viele nur für kur-
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ze Zeit „nach drüben“ und wieder zurück. Schon überquere ich die „Green Line“ und gelange so in den türkischen Nordteil der Hauptstadt Zyperns. Der Name „Green Line“ geht auf die Zeit des Bürgerkriegs von 1963 zurück. Damals markierte der britische General Peter Young bei Waffenstillstands- verhandlungen die Grenzen zwischen den verfeindeten Volksgruppen auf einer Karte mit grünem Stift. Schon damals wurde Nikosia geteilt und die Grenze von UN-Blauhelmen bewacht. Nach dem Einmarsch der türkischen Armee 1974 griff man auf die Bezeichnung „Green Line“ zurück und meint damit nun über Nikosia hinaus die Demarkationslinie durch ganz Zypern. Das Passieren der Grenze geht schnell, aber bei mir sind sofort die Erinne- rungen an die Teilung Berlins und an das viele, jahrzehntelange (in meinem Fall zwei Jahrzehnte) Passieren der Grenzübergänge wach. Sofort verspüre ich einen diffusen Wiederwillen. Für einen Moment habe ich ein Dejá-vù- Gefühl. Schon wieder Pässe zeigen. Gelangweilte Jungspunte in Uniform, die sich alle Zeit der Welt lassen. Ein Gefühl unterschwelliger Bedrohung, obwohl nichts, rein gar nichts passiert. Dieses ewige Warten. Wie unvorstell- bar war der Mauerfall damals! Bleierne Zeit. Das Gefühl, irgendwie auf der falschen Seite zu sein – dieses Mal habe ich es auf beiden Seiten. Entweder man kommt aus dem falschen Teil der Insel oder man geht herüber zu ihm. Die Leute, die mit uns an der Grenze stehen, sind keine Touristen. Sie sehen ärmlich aus, wirken abgehetzt, vielleicht jobben sie auf der anderen Seite. Sie sind routiniert im Überqueren der Grenze, man merkt es ihren Bewe- gungen an, der Art, wie sie auf der einen Seite noch rasch eine Zigarette mit dem Fuß austreten, dann an den Schalter treten. Und dennoch, bei al- ler scheinbaren Alltagsroutine und Banalität der Grenze: Jedes einzelne Mal bekommt man ein Visum. Am Ende der Reise habe ich einen Stapel davon.
Nikosia ist im Großen und Ganzen, abgesehen von den kleinen Altstadtgäs- schen, eine hässliche Stadt – hüben wie drüben. Ein Allerweltskettenladen steht neben dem nächsten, Geschäfte wie man sie mittlerweile von Stock- holm bis Madrid finden kann, ein Basar mit Süßigkeiten und Teewaren er- obert jedoch mein Herz. Zum Glück habe ich nichts gegen moderne, soge- nannte hässliche Städte, ich beobachte die Menschen wie in den schöneren Städten, betrachte den Alltag. Im türkischen Teil sind die Törtchen und Teig- waren besser, im griechischen die herzhafte, mediterrane Kost. Müsste man keinen Grenzübergang passieren, würde ich auf der griechischen Seite der Lidra-Straße Mittagessen, auf der türkischen Seite Kaffee und Kuchen essen. Im griechischen Nikosia fallen mir die zahlreichen Graffiti an den Hauswän- den auf, die die sich überschlagenden Ereignisse auf Ägypten und Tunesien kommentieren: „Egypt and Tynisia we are with you“ lese ich. Am Flughafen schon war ein Schalter gesperrt für „Refugees from Egypt“. Die arabischen Revolutionen sind hier deutlich näher gerückt. Im türkischen Teil von Nikosia ist es nicht schöner oder „authentischer“ als im griechischen, EU-gepäppel-
ten: Hier stößt man überall auf windschiefe Billigramschläden oder Stände, an denen Puma-T-Shirts, Prada-Taschen, Lacoste- und Boss-Hemden für sa- genhaft niedrige Preise – im 3-5 €-Bereich, erworben werden können. Etwas schief prangt der Puma dort auf dem ausgebeulten T-Shirt, das bekannte grüne Krokodil hat einen Stummelschwanz. Eigentlich gefällt es mir sogar besser als sein stromlinienförmiger Bruder, der meint, einen zwanzigfachen T-Shirt-Preis rechtfertigen zu können. Vom Kauf sehe ich dann aber doch ab. Auffällig, wie wenig Frauen mit Kopftuch herumlaufen, auch sieht man keine Familienkolonnen wie in manch anderen muslimisch geprägten Län- dern, die ich besucht habe: der Vater vorweg, dahinter in gemessenem Ab- stand die Mutter, danach die große Kinderschar. Es herrscht eine geschäftige Stimmung, einige Halbstarke lümmeln auf alten Motorrädern herum, Kinder sieht man eher wenige.
Nun stehen wir wieder an der Grenze, es geht zurück nach Süd-Nikosia, in den griechisch-zyprischen Teil. Es passiert nichts besonders Demütigendes oder Deprimierendes, dennoch geht mir durch den Kopf: Von wegen ein Europa ohne Grenzen. Man kann von Stockholm nach Lissabon und von Tallinn nach Sizilien reisen ohne seinen Pass zeigen zu müssen, aber in der Hauptstadt Zyperns nicht von einer Straßenseite auf die andere gehen. Zurück auf der griechischen Seite der Lidra-Straße besuche ich das „Natio- nal Struggle Museum“, das die Zeit des antikolonialen Kampfes gegen die englische Herrschaft behandelt, die 1960 mit der Unabhängigkeit Zyperns endete.
Im„National Struggle Museum“ wird die viele tausend Jahre alte griechische Kultur hervorgehoben. Türken tauchen nicht auf, es wird der Eindruck ver- mittelt, als sei die Insel stets nur griechisch, die Bevölkerung homogen ge- wesen. Ganz am Rande werden einmal 300 Jahre„osmanische Okkupation“ erwähnt, einmal werden die Türken unter der Rubrik „Vandalismus“ vorge- stellt. Über das Regime der Obristen, die griechische Militärdiktatur, kurz: die Junta, die von 1967 bis 1974 herrschte und die aus dieser Zeit resultierende Sorge des türkischen Teils der zyprischen Bevölkerung, von dieser Diktatur missachtet, zu Griechen gemacht und vereinnahmt zu werden, erfährt man nichts. Wörtlich heißt es auf einer Stelltafel: „Despite the many foreign do- minations of the island, the national character of its inhabitants has been preserved.“ Dieses Wörtchen „erhalten“ (preserved) scheint besonders wich- tig zu sein als sei „Einfluss“ immer und grundsätzlich negativ zu bewerten. Weiter heißt es nach einer Ausführung über die Zeit um 1400 vor Christus und die Mykenen:„Since then the languages, the arts and the culture of the Cypriot people have been greek.“
In Nord-Nikosia, auf türkischer Seite, finde ich ein paar Stunden später tat- sächlich ein Museum namens „Museum of National Struggle“. Mit „Befrei-
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ungskampf“ ist hier jedoch nicht der Kampf gegen die Briten, sondern der Bürgerkrieg und Kampf gegen die griechischen Zyprer gemeint. Anders als der griechische Süden versteht das offizielle Nordzypern unter dem Begriff „National Struggle“ den Kampf gegen die andere Volksgruppe. Bei den Türken scheint die Sicht auf die Griechen auf die Zeit der Militärdikta- tur beschränkt zu sein. Dass diese in Griechenland vor nunmehr 37 Jahren gescheitert ist und die gefürchtete Vereinigung Zyperns mit Griechenland, seitdem dort demokratische Verhältnisse herrschen, längst absolut kein Thema mehr ist, findet im„Museum of National Struggle“ kaum Berücksich- tigung. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein.
Der Hauptunterschied zwischen dem„National Struggle Museum“ (griechi- sche Seite) und dem „Museum of National Struggle“ (türkische Seite) liegt in der Ausrichtung, gegen wen gekämpft wurde. Die Griechen verstehen ihren„Befreiungskampf“ als Kampf gegen die Kolonialherren, die Briten. Das Museum zeigt hauptsächlich Fotos aus den späten Fünfziger Jahren und dem Jahr der Unabhängigkeit, 1960. Als ich vor einer Fotowand stehe, höre ich hinter mir eine Frau in Deutsch zu ihrer Begleitung sagen:„Ich finde Grie- chen und Türken sind sich oft sehr, sehr ähnlich. Dieser Blick von außen fehlt ihnen jedoch oft völlig.“
Am nächsten Tag geht es übers Land in den nordzyprischen Inselteil zur be- rühmten Hafenstadt Kyrenia und zur Burg Hilarion. Wieder passieren wir die Grenze, diesmal müssen wir länger warten. Es ist heiß, die Grenzer machen ihre Sache langsam, sie trinken viel Kaffee auf Thermoskannen, rauchen, ei- ner bläst Kringel in die Luft, ein anderer spielt mit seinem Handy, das Warten scheint Teil des Insellebens geworden zu sein. Für eine Sekunde erinnere ich mich wieder an die ewige Warterei in den Gaststätten Ostberlins durch den Kopf, wenn wir mal die andere Stadthälfte besuchten. Dieses ewige Warten, bis man einen Platz zugewiesen bekam, obwohl das Restaurant fast leer war. Zu unserer Linken wiegen sich Palmen. Ich könnte sie anfassen, wenn ich das Autofenster herunterfahren würde. Sattgrüne Agaven säumen die Stra- ße. Libellen, hellgrün und magentafarben, tanzen vor unserer Windschutz- scheibe. Was für ein schönes Land. Aus der Ferne hören wir Schüsse. Mir fällt wieder der russische Panzer am Grenzübergang Dreilinden ein. Und mein Vater, der im Auto zu uns Kindern meinte: „Der ist aus dem Zweiten Welt- krieg, der kann gar nicht mehr schießen!“ Wirklich nicht? Ich erinnere mich wieder, wie wir einmal sieben Stunden am Grenzübergang gewartet hatten, um nach Prag zu fahren, und dann wurde unser Auto von oben bis unten durchsucht. Zum Glück hatte mein Bruder damals noch nicht gekifft. Aber diese Angst und diese Unsicherheit: Warum hat man ausgerechnet uns aus der langen Schlange der wartenden West-Autos herausgepickt, was ist an uns besonders auffällig, sehen wir verdächtig aus, warum kann dieser alte Benz da durch fahren und warum müssen wir sieben Stunden warten und werden bis unter die Radkappen durchsucht? Was ist mit uns? Und dieses
Warten, das Betrachten der Autos vor uns: Der eine hat zwei gehäkelte Klo- rollen auf der Rückbank, der nächste einen blauen Aral-Atlas. Es gab viele blaue Aral-Atlanten damals auf den Rückbänken. Und immer war der Ein- band wellig von der Hitze. Man hatte das Gefühl, so langsam wie die Zeit verging, konnte man zusehen, wie er sich wellte. Man fuhr eine halbe Au- tolänge, und dann blieb man wieder stehen. Kalter Krieg, gesellschaftlicher Permafrost, eine eingefrorene Zeit, unsichtbare, unheimliche Vermehrung der Sprengköpfe, Angst, unterschwellige, was ist, wenn einer den falschen Knopf … eine kollektive Warteschlange.
In Kyrenia, der einfach wunderschönen Hafenstadt im Norden der Insel, bin ich viel stärker als in Nikosia mit Gegensätzen konfrontiert: Aus der Altstadt hören ich den Muezzin, laufe an Moscheen, Kirchen und Burgen vorbei, vor mir Mädels in Hot Pants und verschleierte Frauen. In einem Café sitzen zwei alte Ladies mit Maggie-Thatcher-Frisuren, die sich Törtchen essend in Eng- lisch – einem Englisch mit einem very british accent – über ihre Wochen- endpläne unterhalten. Am Meer sehen wir wir Beachpartys und traditionelle Wasser-Feste. Auf einem am Hafen gelegenen Spielplatz tobt mein kleiner Sohn, anderthalb Jahre alt, mit den türkischen und griechischen Kindern, er fällt auf mit seinen blonden Locken, aber kein Kind schert sich um ihn, sie rutschen alle zusammen, purzeln und fallen übereinander, es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Für einen Moment kann ich mich dem anarchoroman- tisch-infantilen Gedanken „Noch sind ihre Köpfe frei von all dieser nationali- stischen Scheiße“ nicht wirklich erwehren.
Am Fuß der Burg Hilarion befindet sich eine Kaserne. An ihrem Eingang steht eine gigantomanische Soldatenskulptur, die vom Stil her an soziali- stische Helden erinnert. Mir fallen sofort Denkmäler in Bukarest, Sofia, Riga und Kiew ein, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Heroentum und Unterwerfung, Sieg und Verlust – stets wird das gleiche duale Welt- bild entworfen. Dies ist nicht der einzige Moment in Nordzypern, in dem mir die vielen martialischen und nationalistischen Symbole auffallen. Der kleine okkupierte, international nicht anerkannte Teil scheint sich mit viel ästhetischer Kraftmeierei behaupten zu wollen. Staaten, die eigentlich ein Identitätsproblem haben, müssen sich Symbole quasi ausborgen und diese geborgte Identität besonders betonen. Wieder muss ich an ein anderes de facto-Regime denken: an die moldauische Teilrepublik Transnistrien – ein Land, nur wenig größer als das Saarland, das sich mit gewaltigen Grenzan- lagen abriegelt und viele Besucher erst gar nicht herein lässt. Von der rumä- nischen Grenze über Moldau bis nach Transnistrien habe ich auf nur 200 Kilometern sieben Grenzübergänge passieren müssen. Transnistrien klingt beinahe wie ein ausgedachter Name und ebenso absurd kommt einem der kleine separatistische Staat vor, auf dem immer noch die 14. russische Arme
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stationiert ist – sie ist nach der Wende nie aus diesem Teil der ehemaligen MSSR (Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik) abgezogen worden. Nir- gendwo habe ich jemals so viele Lenin- und Marx-Statuen und -büsten auf einmal gesehen als in diesem kleinen Landstreifen, der sich den Anschluss an Russland herbeisehnt – und sich in die Zeit vor der Wende zurückträumt. Es heißt, dass Transnistrien zwei Rekorde in Europa bricht: Es ist die Region, in der die meisten konventionellen Waffen (ehemals russische) stationiert sind – und es ist die Region mit den größten Spirituosenvorräten des Kontinents. Wegen dem ungelösten Transnistrienkonflikt wird die rumänischsprachige Republik Moldau, des einstige Bessarabien und einst Teil Rumäniens, wohl nie zur EU gehören. Die Rumänen und die Moldauer, mal Bewohner des gleichen Landes, teilt nun die EU-Außengrenze.
Die mittelalterliche Burg Hilarion ist prächtig, sie schmiegt auf drei verschie- denen Stufen wie ein organisches Wesen an die Hügelkette, wird Teil von ihr. Ich komme ordentlich aus der Puste beim Versuch, das oberste Plateau zu erreichen. Auf und ab geht es durchs Dickicht mediterraner Sträucher und Zwergkiefern, das plötzlich immer wieder Blicke aus großer Höhe auf das Meer, den Hafen von Kyrenia oder auf große Schiffe am Horizont freigibt. Eine phantastische Lage für eine Festung. Doch es fällt mir schwer, mich auf die„kriegerische Vergangenheit“ der Insel einzulassen, zu versuchen, mich in die Zeit der alten Wehranlagen an Zyperns Küste zurückzuversetzen. Immer wieder hören wir Schusssalven. Wenn ich nicht vor mir zum Meer, sondern landeinwärts schaue, sehe ich auf türkischer Seite einen Truppenübungs- platz. Und da stehen auch schon die Pappkameraden. Und fallen. Fallen. Fallen. Ich halte mich an einem Geländer fest. Die Luft zittert.
Im türkischen Teil von Zypern sieht (und hört) man zweifelsohne mehr Mili- tär, mehr nationalistische Symbole wie gehisste Flaggen fallen ins Auge. Es wundert einen nicht, wenn man Näheres über den Haushalt der Republik erfährt: Nordzyperns Wirtschaft liegt zwar über dem Niveau der Türkei, aber unter dem der Republik Zypern. Das kleine international nicht anerkannte Land leidet vor allem unter den extrem hohen Militärausgaben: 75 % des Bruttosozialproduktes werden hier fürs Militär ausgegeben, in der Republik Zypern liegt der Satz bei 4 %. Aus Steuereinnahmen können nur 50 % der Staatsausgaben bestritten werden, die andere Hälfte zahlt die Türkei.
Am nächsten Tag machen wir einen Ausflug nach Famagusta, wieder pas- sieren wir die Grenze. Diesmal haben wir das Vergnügen, auch noch von den Briten, die seit 1960 nie vollständig abgezogen sind und sich bei den Unabhängigkeitsverhandlungen dieses merkwürdige Sonderrecht heraus- gehandelt haben, kontrolliert zu werden. Hinter dem britischen Kontroll- punkt sehen wir zu unserem Erstaunen eine kleine britische Musterstadt: Ty- pische Reihenhäuschen wie man sie aus Oxford oder Bristol kennt, Vorgärt-
chen, Gassigehende Ladies mit hoch aufgetürmtem Haar – die Zeit scheint wieder einmal stehen geblieben zu sein. Großbritannien südlich der Türkei, der alte nie ausgeträumte Traum, die letzte Kolonie. Wir sind durch die Kon- trolle, mich überfällt das alte Freiheitgefühl, da mich immer überkam, wenn wir plötzlich wieder auf dem Berliner Ring, der Avus waren: endlich nicht mehr still stehen, der Willkür anderer ausgeliefert sein, Gas geben! In der DDR durfte man nur Tempo 100 fahren, war das langweilig, auf dem Berliner Ring traten alle erstmal aufs Pedal. Gas geben! Das gleiche „alte Gefühl hat mich erst kürzlich beim Passieren der Grenze zwischen Polen und der Ukrai- ne wieder befallen – die in sich grenzenlose EU und ihre abgeschotteten Ränder, was für ein Kontrast. Rechts von uns liegt das Meer und glänzt in einem geradezu unwirklichen Blau, als wäre die Erde ein erfundener Planet, als wären wir nichts als ein Hirngespinst, ein Sehnsuchtsmoment irgend- welcher Marsmenschen, ebenso extraterrestrisch muten nun die vielen ver- lassenen Häuser, die Geisterstädte, einst von Griechen bewohnt, zu unserer Linken an. Architektur konserviert die Folgen von Kriegen besonders lang. Tote sind längst begraben, verwüstete oder verlassene Städte bleiben übrig für die Nachwelt. Der Bürgerkrieg liegt über 30 Jahre zurück, doch die vielen leeren Hochhäuser säumen Famagusto, als hätte er erst gestern stattgefun- den. Der Abriss so vieler Häuser scheint zu teuer zu sein. So fahren wir an den Geisterstädten vorbei, die direkt an den schönsten Stränden der Insel liegen und dorthin ihre Schatten werfen.
Schließlich gelangen wir nach Famagusta, einer schönen, türkisch gepräg- ten, lebhaften Kleinstadt mit Märkten und vielen kleinen Läden. Der Spuk der Geisterstädte liegt hinter uns. Wir trinken einen türkischen Kaffee, sit- zen träge in der heißen Februarsonne und hören dem Muezzin zu. Keiner scheint Eile zu verspüren, in die Moschee zu eilen. Man trinkt weiter Kaffee oder geht seinen Geschäften nach.
Tatsächlich gelten die Nordzyprer als wenig religiös – es sind die türkischen Neuansiedler, oft aus anatolischen Dörfern, die regelmäßig in die Moscheen gehen. Die Nordzyprer feierten auch einige Feste der griechisch-orthodoxen Kirche mit – und umgekehrt – aber seit der Teilung des Landes herrscht auch kul- turelle Segregation. Schon seit Langem gibt es mehr türkische Neuansiedler als Nordzyprer auf der Insel, was aus Sicht der Einwohner das Kräftegleich- gewicht empfindlich verschoben hat. Wir besuchen noch die berühmte Lala Mustafa Pascha-Moschee, vor 1571 noch der gotische St. Nikolaus Dom. Im Reiseführer steht zu unserem Amüsement: „Seine dreifachgewölbte Fassa- de, die zur Gegenwart überlebt hat, ist vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Über seinem mittleren Bogen können die Mantel der Arme von Giovanni Renier, Kapitän von Zypern in 1552, gesehen werden. Seine vier Granitespal- ten sind von den Ruinen der Salami gekommen.“
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Nach den Bildungsetappen haben wir jetzt handfeste Probleme: In den türkischen Cafés und Restaurants gibt es keine Wickeltische oder ähnliche Vorrichtungen – anders als im griechischen, touristischeren Teil. Die türki- schen Mütter sitzen nicht in Cafés herum, Kinder und Frauen sind Teil der Privatsphäre, scheint es. In den griechischen Restaurants ist man mehr auf Gäste eingestellt, Wickeltische sind hier Touristensache.
Auf dem Rückweg nach Süd-Nikosia besuchen wir im Osten der Insel eine unglaubliche antike Sportanlage: Salamis. Die ältesten archäologischen Überbleibsel von Salamis reichen bis ins 11. Jahrhundert vor Christus. Ich bin völlig überrascht, dass sie nicht ebenso bekannt wie z.B. der Palast von Knos- sos ist. Die Anlage ist riesig und besteht aus mehreren Komplexen, einem Theater, einem Bad, mehreren riesigen Säulenhallen (es stehen nur noch die Säulen und einige kopflose Skulpturen), es ist atemberaubend. Doch ist es für Nicht-Ortskundige äußerst schwierig, die antike Stätte zu finden. Kein Hinweisschild an der Straße, erst zuletzt ein winziger Wegweiser, den man schnell übersehen kann. Dann muss man eine enge nicht geteerte Gasse entlangrumpeln und erhält keine weiteren Hinweisschilder. Ist den Türken dieses griechische Erbe unangenehm, stören sie sich daran? Anderswo würde man versuchen, die Touristen in Strömen damit anzulocken. Oder sind meine Überlegungen falsch, fehlt es einfach an Geld für eine bessere Beschilderung? Eintritt wird zwar vor Betreten der Anlage kassiert, aber so etwas wie einen Shop, ein Buchladen oder ein Café sind weit gefehlt. Man erhält kaum Informationen über die sagenhafte Stätte. Zäune, Absperrun- gen gibt es nicht. Die Handvoll Besucher, die neben uns da sind, laufen wie wir überall mitten auf den mehr als zweitausend Jahre alten Anlagen herum, einige werfen Steine ins ehemalige Schwimmbecken, ein anderer macht es sich auf einem Säulenstumpf gemütlich, ein weitere ritzt seine Initialen in eine Säule, niemand hindert ihn daran. Jeder kann überall hin, geschützt wird nichts. Wie wird die Anlage in 20, 50, 100 Jahren aussehen? Man mag es sich nicht vorstellen.
Wir fahren zurück nach Süd-Nikosia, vorbei an ins Abendrot getauchten, fast leeren weißen Stränden. Manchmal sehen wir Gruppen von Jugendlichen, die tanzen, picknickende Familien, dann wieder Soldaten. Und jetzt müssen wir wieder die Grenze passieren. Unser Kind weint, die Soldaten winken ihm zu, lachen, hören Musik.
Ich gebe zu: Die Insel verwirrt mich. So viel Müßiggang, so viel Militär. So viel Politik, so viele Partys und Feste. Zur Entspannung setze ich mich in den absurden Massagesessel, der im Foyer des „Europa Hotels“ steht. Es ist ein Monstrum, mit Geldeinwurf an seiner Linken. Einen Euro will das Monster. Sonst rührt es sich nicht. Einen guten Stundenlohn bekommt es – einen Euro für drei Minuten Arbeit. Doch jetzt geht es los: Den Rücken hoch, an den Schulterblättern entlang, den Nacken hoch boxen mich sanfte Fäuste,
kneten mich merkwürdige Würste – der Stuhl ist wohl für größere Men- schen konzipiert, jedenfalls bekomme ich ab und zu auch einen Schlag in den Hintern. Am Ende tun tatsächlich weder Rücken noch Schultern mehr weh, und ich bin wohlig müde. Ich schlafe oben bei offenem Fenster ein, in der Ferne fallen Schüsse.
Es gibt Momente, in denen ich mich dabei ertappe, zu denken: Lohnt sich das Theater um diese Steinbrocken-Insel überhaupt? Warum ist dieses bis- weilen recht öde Eiland solch ein Zankapfel? Dann fallen mir zwar wieder die gewichtigen geopolitischen, historischen und kulturellen Gründe auf beiden Seiten ein, aber dennoch kann ich mich manchmal diesen un- freundlichen Gedanken nicht erwehren.
Wieder taucht für mich die Frage auf: Wie lange kann eine nationale Zu- gehörigkeit zurückliegen – beispielsweise die Zugehörigkeit Zyperns zum osmanischen Reich – um in der Gegenwart noch Ansprüche zu legitimie- ren? Wird es irgendwann eine UN-festgelegte Verjährungsfrist geben, so lächerlich das klingt? Und wie kann man Dauer einer Zugehörigkeit gegen zeitliche Distanz aufrechnen? Zypern hat viel länger zu Rom als zum osma- nischen Reich gehört, letztere Etappe ist aber jüngeren Datums. Und wieso können eigentlich nicht die Zyprer selbst entscheiden, wohin und zu wem sie gehören wollen? Wenn der festlandgriechische Versuch der Annektion schon vor Jahrzehnten gescheitert ist und Zypern eine freie Republik mit griechischen, türkischen, britischen Bürgern, warum muss die Türkei noch ihren Anspruch auf Nordzypern seit Jahrzehnten untermauern? Mit wel- chem Recht? Weil Zypern vor der Haustür liegt? Wie lässt sich nun zu den vorher genannten Parametern „Dauer der Zugehörigkeit“ und „Historische Zugehörigkeit“ noch das Parameter„Geographie“ in Bezug setzen?
Am letzten Tag entdecken wir, als wir uns verlaufen haben, in einer kleinen Gasse im türkischen Teil von Nikosia – wir trauen kaum unseren Augen – ein Hotel, oder eher eine Pension, mit dem Namen„Hotel Europa“. Auch das gibt’s hier noch doppelt!
Aber, natürlich, mit kleinem, feinen Unterschied, wir wohnen ja im „Europa Hotel“. Irgendwie passt es zu dieser Insel, dass wir dieses zweite„Hotel Eu- ropa“ erst am Ende der Reise finden – in dem unbekannteren, türkischen Teil der Insel.
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