Über selbstverliebte Literaten und einen Literaturbetrieb, der die Eigenliebe fördert und fordert
Die Welt, 25. März 2000
Auffallend viele deutsche Schriftsteller haben nach dem Zweiten Weltkrieg über den Narziß-Mythos geschrieben, ob Günter Grass, Rose Ausländer, Michael Krüger, Hans Jörg Zauner oder Uwe Kolbe. Im Drama, in lyrischer Form und als „narzißtische Persönlichkeit“ im Roman taucht der selbstverliebte Jüngling auf. Wundern kann einen das kaum, hat doch nach dem Wirtschaftswunder der Wegfall existentieller Nöte einen Rückzug auf individuelle Interessen, eine Orientierung hin zum Ich, im Jargon der 68er: zum Selbstausdruck, stattgefunden, die natürlich auch in der Literatur ihren Niederschlag fand und findet. Psychoanalytiker konstatierten eine Verschiebung der Krankheitssymptome ihrer Patienten; war noch zu Zeiten Freuds, Adlers und Jungs die Hysterie oder die Zwangsneurose ein populärer Behandlungsgrund, sind diese „klassischen Neurosen“ längst den zeitgemäßen „narzißtischen Persönlichkeitsstörungen“ und dem ihnen oft verwandten „Borderline-Syndrom“ gewichen. Auch Freud hatte schon über den Narzißmus debattiert und seine Genese in der „phallischen Phase“ der Kindheit vermutet, dennoch blieb diese Persönlichkeitsstörung in der Praxis ein Ausnahmefall – zur Erleichterung Freuds, der den von dieser Störung Befallenen meistens „Therapieresistenz“ attestierte.
Während Marie Luise Kaschnitz noch über das „seltsame Liebespaar Ich und Ich“ nachdachte (aus dem Gedicht „Narziß“, 1957) und Inge Müller dumpf anklagte: „WER GIBT DIR EIN RECHT DEN STUMMEN ZU SPIELEN“ (aus dem gleichnamigen Gedicht), während Karin Kiwus noch in „Herr und Knecht“ ihren Narziß über den Begriff des „kindlichen Spiels“ reflektieren ließ, Dagmar Leupold schon hellsichtig über das „Plappermaul Echo“ sinnierte und Grass‘ „Narziß“ (Gedicht aus dem Jahr 1960) sich noch „Schuhe mit narbigen Sohlen“ kaufte, so trägt der jugendlich-lockere Schriftsteller am Beginn des 21. Jahrhunderts Edel-Stiefeletten, himmelblaue Pumps oder Modetreter mit Kuhfell-Imitat. Bestenfalls schreibt er hin und wieder über gelangweilte Narzißten, angespornt von amerikanischen Romanciers wie Tom Wolfe („Fegefeuer der Eitelkeiten“), mehr und mehr jedoch inszeniert er sich selbst.
Dieses Phänomen der Abwendung vom Text und Hinwendung zum Selbst des Schriftstellers verdient Aufmerksamkeit. Und ist keinesfalls nur negativ zu werten: Hat nicht in den letzten zehn Jahren die nachrückende Schriftsteller-Generation bewiesen, daß man die dieser Profession zugeschriebene „Berufskleidung“ von Nickelbrille und grauem Rolli oder Topffrisur und schmucklosem Kleid getrost wechseln kann, ohne den Job wechseln zu müssen? Haben nicht zum Beispiel in Berlin erstmals wieder Schriftsteller die Konkurrenz der DJs aus dem Feld geschlagen, wenn es einen urkomischen Kabarettabend, einen seltsamen Poetry Slam, eine ebenso stille wie beeindruckende Lyrik-Performance gab? „Surf-Poeten“, „Till – die sprechende Droge“ – bis vor kurzem hätte man hinter diesen Namen sicherlich keine in großen Verlagen veröffentlichten Schriftsteller- bzw. Autorengruppen vermutet. Literaten sind nicht salon-, sondern medienfähig geworden, sie können sich auf den verschiedensten Bühnen, ob Akademikermatinee oder Szene-Club, ein heimisches Radiointerview oder Goethe-Institut im Ausland, erfolgreich präsentieren und sehen zu allem Überfluß auch noch so aus, als würden sie nicht „leiden“ unter der Öffentlichkeit, sondern sie genießen. Man muß feststellen: Es ist den großen Verlagen gelungen, ihrer Furcht, der Literaturbetrieb möge den Anschluß verlieren an andere Zeitvertreibsindustrien wie etwa die cineastische oder televisuelle, mittels popstarhafter Jung-Literaten etwas entgegenzusetzen. Wer, der nicht im Literaturbetrieb angesiedelt ist, kann schon unterscheiden zwischen „Oli P.“ und „Benjamin S. B.“? Wer weiß noch, ob das blonde Jungengesicht auf der Peek & Cloppenburg-Reklame zu einem Keyborder, einem Radiomoderator oder gar zu einem Literaten gehört? Und die junge Frau – auf dem Cover eines Paperbacks in zerwühltem Bett -, ist das wirklich die Autorin dieses Buchs oder doch „nur ein Model“? Es ist die – für eine Stunde – in die Haut des Fotomodels geschlüpfte Autorin Sybille Berg. Irgendwann wurde es EMMA zu bunt, und sie wetterte gegen den vom SPIEGEL-Autor Volker Hage in Umlauf gesetztem, in der Tat nichtssagenden Begriff „Fräuleinwunder“ – und gab damit den ersten Impuls für eine ganze Reihe von gutgemeinten „Frauenbüchern“. Die „West-östlichen Diven“ von dtv sind nur ein Beispiel für ein zwar berechtigtes weibliches Aufbegehren gegen die besondere Vermarktung von Autorinnen, dennoch tappen die Herausgeberinnen natürlich selbst in die Falle des männlich-weiblichen Ghettodenkens anstatt die Literatur als einen utopischen Ort anzusehen, hinter dem der Autor in seiner biologisch determinierten geschlechtlichen Identitäten verschwindet.
Aber auch die männlichen Vertreter der schreibenden Zunft stehen in punkto Eitelkeit ihren Kolleginnen in nichts mehr nach: Sie lassen vor versammeltem Literaturbetrieb in Seidenanzügen von Fotografen umschwärmen oder tragen, ewig in Motorradkluft, das Schild „bin aus dem korrekten Osten“ so dick auf der Stirn, daß man meint, man bräuchte ihre Bücher gar nicht mehr zu lesen, da man schon ahnt, was darin steht: Anekdotenhaftes über einen jungen korrekten Kerl aus dem Osten in Motorradkluft. Manchmal hat man fast den Eindruck, man müßte nicht mehr die Bücher kaufen, sondern nur noch Fotos der Autoren heranziehen, schon wüßte man, wovon die jeweiligen Texte handeln. Liegt eine Sybille Berg leidend auf einem Bett, weiß man, daß es hier um unglückliche Liebe geht – nicht um eine platonische, versteht sich. Sieht man einen Krawattenschnösel mit Seitenscheitel, liegt es auf der Hand, daß er u. a. über die 68er und ihre nicht mehr marktgerechte Ästhetik herzieht.
Es ist merkwürdig: Galt es früher oft als ein Vorzug des Buches gegenüber dem Film, daß ersteres der Phantasie in bezug auf das handelnde Personal keine Grenzen setzte, so scheint jetzt ein gegensätzlicher Trend angebrochen: Guck dir die in Stadtmagazinen abgedruckten Fotos der Verfasser an, und du weißt in etwa, wie die Welt aussieht, die zwischen den Buchdeckeln dämmert.
Junge Männer in weißen und elfenbeinfarbenen Anzügen in der „Bar jeder Vernunft“, eine Modigliani-Frau mit zur Seite geneigtem Haupt, eine Motorradmieze im Dirndl, die Nachbar-von-nebenan-Ausstrahlung eines Ingo Schulze – immer vielfältiger grenzen sich die Autoren voneinander ab und definieren damit zugleich ihre Leserschaft. Manche Verlage kleben CDs in die Bücher, wie im Falle von Frank Goosen, um noch deutlichere Signale zu setzen. Es reicht nicht mehr, die Songs, denen Goosen in seinem Roman verbal Rhythmus verleiht, textimmanent auftreten zu lassen, nein, sie müssen auch konkret das Ohr des Lesers erreichen.
Eine weitere Mode besteht darin, Journalisten in Teilzeit-Romanciers zu verwandeln. Der Vorteil für die Verlage liegt auf der Hand: Der Journalist macht mit jedem seiner regelmäßig erscheinenden Artikel kostenlos Werbung für seinen Namen – und vielleicht auch noch für die Themen, die er gerade literarisch aufarbeitet.
Man kommt mittlerweile nicht mehr umhin zu fürchten: Wenn der Literaturbetrieb, wenn die Verlage verstärkt auf eine narzißtische Selbstpräsentation ihrer Autoren aus sind, wie auch immer diese im Detail gestaltet ist, so riskieren sie die kritische Leserschaft, eine, die zwischen Bild und Abbild zu unterscheiden vermag. Narzißtische Führungspersönlichkeiten provozieren, so der Sozialwissenschaftler Vamik D. Volkan, „bei ihren Gefolgsleuten eine kollektive Regression“. Blinde Kaufwut bei unter Zwanzigjährigen, schwindelerregend hohe Auflagen, Fernsehspots – das neue Image des „guten Autors“? Definiert sich der „gute Autor“ nur noch über die Bereitstellung von zur Instant-Dekodierung gesetzten Zeichen? Und schließlich: Was passiert mit diesem narzißtisch aufgeladenen Autor, wenn sein „labiles Selbstwertgefühl“ (Otto F. Kernberg) in Frage gestellt wird, weil sein Image plötzlich als nicht mehr marktgerecht empfunden wird – wenn all die in den vergangenen Monaten oder Jahren präsentierten Bilder sich verbraucht haben und die Leserschaft vielleicht nicht mehr nach DJ-Autoren oder „Lockenwundern“ („Diese Locken!“ betitelte sogar „Die Zeit“ einen Artikel über Alexa Hennig von Lange) lechzen sollte? Was passiert mit diesen Autoren, deren Texte vielleicht besser sind als früher, deren Auftreten aber weniger spektakulär ausfällt? Wird die „Depression als Kehrseite der Grandiosität“ (Alice Miller) von ihnen Besitz ergreifen und sie in ihrem künstlerischen Ausdruck hemmen? Oder werden sie sich erst einen Image-Berater und dann ein neues Image und eine neue Schreibe zulegen?
Auch bisher war das äußere Erscheinungsbild und der Habitus eines Autors nicht unwichtig, aber noch nie war das Verhältnis zwischen dem, was außerhalb der Buchdeckel, und dem, was innerhalb dieser stattfindet, so eklatant aproportional. Der amerikanische Psychologe Christopher Lasch, der Ende der siebziger Jahre die vielgelesene Studie „On Narcissism“ veröffentlichte, widmet ein Kapitel dem Thema „Narzißmus und Alter“. „Da der Narzißt über besonders wenig innere Reserven verfügt, erwartet er von anderen eine Bestätigung seines Selbstwertgefühls“, schreibt er – diese Bestätigung wird aber mit dem Älterwerden oft versagt, zumal in einer jugendenthusiasmierten Gesellschaft.
Und auch hier will der Literaturbetrieb in nichts nachstehen. Anstatt eine eigene, eigensinnige Rolle im gesellschaftlichen Gefüge zu spielen, setzt er mit anhaltendem Elan auf Newcomer, auf vielleicht talentierte, aber relativ unerfahrene Autoren, führt alle halbe Jahre neue und noch jüngere Gesichter vor anstatt eine gute, dem Anfängerstadium entwachsene Autorengruppe (die natürlich keineswegs hermetisch sein sollte) langfristig aufzubauen und im Bewußtsein der Leserschaft zu bewahren. Und dann wundert man sich hierzulande bei diesem quantitativen Verschleiß an Young and Pretty, daß im Ausland kaum jemand einen zeitgenössischen deutschen Autor kennt und selten über Thomas Mann oder Heinrich Böll hinauskommt. Dem eingangs erläuterten positiven Effekt der narzißtischen Aufladung von Schriftstellern seit den neunziger Jahren, der sich in der Abkehr vom stereotypen Bücherwurm-Image und der Transparenz für andere Szenen (Clubs und Bars etc.) äußert, steht die Exploitation des Gesichts, der Biographie, des privaten Wirkungsfeldes gegenüber. Der Konzentration auf die Person des Autors scheint die langfristige Konzentration auf die Entwicklung seines Werks (allein dieses markiert einen Gegensatz zum glänzenden, perfekten Foto) umgekehrt proportional entgegenzustehen. Ein Autor, der drei oder vier Bücher veröffentlicht hat, erhält selten so viel Resonanz, d.h. so viele Rezensionen wie ein Debütant (vorausgesetzt letzterer veröffentlicht bei einem großen Verlag), einige Literaturpreise und Stipendien werden nur „bis Alter 35“ vergeben, jede zweite Subvention richtet sich „an den Nachwuchs“.
Der Nachteil bei dieser Fixierung auf das Visuelle, auf die narzißtische Präsentation der Autoren, ob nun von ihnen selbst, vom Verlag oder von „den“ Medien lanciert, geht immer auf Kosten des Textes. Es wird nicht bemerkt, was nicht zum Image des Autors zu passen scheint. Die zeitlose Poesie in den naturbeschreibenden Passagen des zeitgenössisch-modernen „Regenromans“ wird nicht wahrgenommen, der untergründige Humor in Terezía Moras bitterernster „Seltsamer Materie“ überlesen, die Selbstironie der neuen „Dandys“ nur gegen ihre „Selbstgefälligkeit“ ausgespielt. Und daß junge Autoren – wie Leander Scholz – überhaupt über ein politisches Thema schreiben, wird – weil man es von dieser Generation nicht erwartet – sofort disqualifiziert.
Das Bild bindet. So wie der mythologische Narziß nicht fortkam von seinem Imago, so verhaftet die narzißtische Bildbesessenheit von heute den Autor, den Text, das Geheimnis, an eine einzige, monolithische Aussage.