Mit dem Label »Migrationsliteratur« kann sie wenig anfangen: Zehra Cirak lebt in Berlin und versteht sich als deutschsprachige Dichterin. Ein Porträt.
Wenn Zehra Cirak etwas aufregt, dann die ewige Frage nach ihrem »Migrationshintergrund«. Die Autorin, eine mondäne Frau mit schwarzem Kurzhaarschnitt und knallrot geschminkten Lippen, wurde 1961 in Istanbul geboren, kam im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Deutschland und wuchs in Karlsruhe auf. Mittlerweile hat sie eine Reihe preisgekrönter Bücher veröffentlicht, darunter Bände mit Gedichten, Prosaminiaturen und Erzählungen. Sie liebt das Knappe, die kurze Form, das Paradoxe und den Wortwitz. So amüsiert sie sich in »Sprachspiel für eine Dramaturgin und eine Türkin« über Identitätsklischees: »Manchmal bin ich/meine eigene Dramatürkin«. Und aus »Stadt – Land – Fluss« wird bei ihr »Stadt – Land – Flucht«.
Cirak arbeitet gerne mit Jugendlichen und geht an Schulen, um in Schreibwerkstätten kreatives Schreiben zu unterrichten: »80 Prozent meiner Schüler sind nichtdeutscher Herkunft«, erzählt sie. Dass sie schnell mal ins Türkische wechseln kann, erleichtert ihr den Umgang mit den Jugendlichen, die, wie sie sagt, zumeist »aus Problembezirken kommen«. Sie ist begeistert von der Phantasie, die die Jugendlichen entwickeln, wenn man ihnen den richtigen Rahmen vorgibt und »es mal nicht um Noten geht«. In Berlin unterrichtet sie Kinder ab der dritten oder vierten Klasse, organisiert werden die Kurse von dem Verein Kulturpate. Es mache ihr einfach Spaß, bei den Kindern »Neugierde auf sich selbst und ihre eigenen erfundenen oder erlebten Geschichten« zu wecken. Sie lächelt und fährt sich durch ihr kurzes Haar. »Die Lehrerinnen«, sagt sie, »sind immer wieder erstaunt, wie anders manche Kinder nach dem Besuch einer Schreibwerkstatt schreiben oder sprechen können«.
Seit über 20 Jahren arbeitet Cirak mit dem bildenden Künstler Jürgen Walter zusammen. Manchmal schreibt er Zeilen aus Texten von Cirak auf den Sockel seiner Objekte, manchmal veranstaltet sie »poetische Führungen« durch seine Ausstellungen und liest aus ihren Texten. So entsteht im Dialog der unterschiedlichen Kunstformen eine fruchtbare Zusammenarbeit. Sowohl Walters Objekte als auch Ciraks Miniaturen zielen auf das Utopische, Skurrile, menschlich Verrückte. In Worten und Bildern manifestiert sich ein philosophischer Humor. Die Jahrzehnte währende Zusammenarbeit der beiden ist ein gutes Beispiel für eine Künstler- und Lebensgemeinschaft, in der nicht der männliche Part dominiert, während der weibliche als Muse oder Buchhalterin fungiert (wie dies bei Christo und Jeanne-Claude der Fall war), sondern in der gleichberechtigt gearbeitet und gelebt wird. Walter ist 70 Jahre alt und damit zwanzig Jahre älter als Cirak, sein Eifer scheint aber eher dem eines 30jährigen zu entsprechen.
Die beiden veranstalten Performances und gestalten Gedicht-Bild-Collagen, die sie schon überall auf der Welt ausgestellt haben. Dennoch ist der wichtigste Literaturpreis, den Cirak bislang erhalten hat, der Adelbert-von-Chamisso-Preis, der von der Robert- Bosch-Stiftung an deutschsprachige Autoren nichtdeutscher Sprachherkunft verliehen wird. Andere prominente Preisträger sind Emine Sevgi Özdamar, Ilija Trojanow, Terezía Mora, Sudabeh Mohafez, Artur Becker, Vladimir Vertlib und Feridun Zaimoglu. Natürlich hat sie sich über den angesehenen Literaturpreis gefreut, doch wie ihr Kollege Zaimoglu kritisiert sie, dass man aus dem »Ghetto der Migranten« in Deutschland nicht ausbrechen könne, selbst dann nicht, wenn man im angeblich so offenen, multikulturellen Kulturbetrieb tätig ist. Sie kontert in einem Gedicht mit dem Satz: »Das Salz kennt keine Nationalgerichte«. Es sei erstaunlich, erklärte der Lyriker Joachim Sartorius in seiner Laudatio auf Cirak, »wie gering der Anteil an ›türkischen‹ Themen an ihrem Gesamtwerk ist«. Vergeblich suche man in ihren Texten nach türkischen Traditionen und Einflüssen. Als Vorbild hat die Schriftstellerin einmal die jüdische Dichterin Hilde Domin genannt. Joachim Sartorius meint, dass Ciraks Gedichte »im Grunde eigentlich alles Störfälle« seien. So bezeichnet Cirak in einem Text einen Künstler, der es zu gesellschaftlichem Erfolg gebracht hat, nicht als »berühmt«, sondern als »verrühmt«.
Auch in ihrem neuestem Buch, dem Erzählungsband »Der Geruch von Glück«, ist wieder ihr Sinn fürs Groteske, Doppelbödige und Abseitige spürbar. Die Erzählung »Die geizige Lea« beginnt mit der Feststellung, dass schon der Name der Protagonistin mit Buchstaben geize. Der Tee wird von Lea gleich dreimal aufgebrüht, bevor der Beutel entsorgt wird. Es wird nicht an gestern oder vorgestern gedacht, weil dies zu viel Energie kosten könnte. Lea denkt nur an das, was heute erledigt werden muss. Und Träume? Die hat sie auch, aber lediglich drei, die sie jede Nacht abwechselnd träumt, alles andere wäre Energieverschwendung. In der Geschichte »Daheim auf Menschenreise« stellt eine Frau Überlegungen darüber an, warum die Gesichter ihrer Mitreisenden oft nicht zu der Sprache passen, die aus ihren Mündern kommt. »Auf der Fahrt übst du dich in den Dialekten deiner Sprache und schaust dich ganz verstohlen im Handspiegel an, wie du dabei aussiehst. (…) Bayrisch, aber auch Hochdeutsch steht dir gut.«
Kajo Niggestich, Leiter des Goethe-Instituts Mailand, meint, dass Ciraks Gedichte und Geschichten »mit durchaus gängigen Bildern beginnen«, aber nie so endeten, wie man es erwarte. »Die Bedeutung wird innerlich verschoben, es entsteht eine semantische Differenz zu dem, was man erwartet, und damit wird jede poetische Aussage zum sprachlichen Abenteuer.« Voller Witz und Lust am Widerspruch bewege Cirak sich zwischen den Bedeutungen der Wörter und Bilder hin und her, so auch in der Geschichte »Dem Zeitgeist verdächtige Buchstaben«, in der der Überwachungswahn persifliert wird. Am Ende wird kein Buchstabe mehr unverdächtig bleiben. Nicht einmal das Ä, das Ö oder das Ü. Ganz zu schweigen von XYZ.
Zehra Cirak: Der Geruch von Glück. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2011, 185 Seiten, 17, 90 Euro