Jüdische Allgemeine, 26. Oktober 2006
Wer nach Krakau fahren will, dem fällt zunächst Auschwitz ein. Das kleine Städtchen Oswiecim liegt nur 40 Kilometer von der schönsten Stadt Polens entfernt. Wer vom Westen aus nach Kraków Glówny mit dem Zug fährt, wird immer auf der Strecke zwischen Kattowitz und Krakau denken: Hier irgendwo liegt es, Auschwitz. Irgendwo hinter all dem üppigen Grün und den verrotteten Fabrikanlagen. Die Polen wollen verständlicherweise wenig mit diesem von Deutschen in ihrem Land errichteten Millionengrab zu tun haben, und der auf eigene Faust reisende Tourist, der sich nicht mit einem Auschwitz-Besichtigungsbus zum Vernichtungslager fahren läßt, wird sich wundern, wie schwer es ist, den Weg von der wunderschönen ehemals galizischen Metropole zum Vernichtungslager zu finden. Die Schilder sind spärlich gesät, windschief und überaus klein. Und wer endlich in Oswiecim angekommen ist, muß dort immer noch die beiden Lager finden. Eine Berliner Organisatorin kulturhistorischer Reisen nach Polen verzichtet manchmal im Rahmen einer Krakau-Fahrt bewußt auf einen Besuch von Auschwitz (bzw. bietet ihn isoliert von Krakau an). Ihrer Erfahrung nach überlagert dieser Besuch die gesamte Reise derart, daß die Besucher nachher weder an den unglaublich lebendigen zweitgrößten innerstädtischen Platz Europas, den Rynek, noch an die malerischen Renaissance-Tuchhallen, weder an Leonardo da Vincis wunderschöne, matt leuchtende „Dame mit Hermelin“ noch an die phantastische Wawelburg denken können, ohne Auschwitz mitzudenken, so, als würde es überhaupt kein gegenwärtiges Polen geben, als wäre Polen nur Deutschlands Hinterhof und Massengrab.
Ruth Fruchtman hat es vor 28 Jahren nach Berlin und nun – als zweite Heimat – nach Südpolen verschlagen. Die schlanke, sensible und zurückhaltend wirkende Frau schreitet den Platz an der Weichsel mit dem kleinen Kiosk, der ungemütlich aussehenden Bushaltestelle und dem herumliegenden Müll ab. „Hier war das, damals, der Sammelplatz.“ Lange Zeit erinnerte nur noch der Name „Plac Bohaterów Getta“ (Platz der Ghettohelden) an die Geschichte dieses Ortes. 2005 wurde der Platz endlich mit einem Mahnmal versehen: 60 Eisenstühle, fest im Boden verankert, sollen an die über 60.000 Juden erinnern, die vor dem deutschen Einmarsch in Krakau gelebt haben. Viele Juden brachten ihr Hab und Gut, sogar Möbel, zum Sammelplatz mit. Die Stühle weisen alle in Richtung des KZs Płaszów, in das die Juden (die, die nach der „Auflösung“ des Ghettos noch am Leben waren) verfrachtet wurden. Die weiträumige Stuhl-Installation, die auch normale Sitzplätze neben der Straßenbahnhaltestelle in ihr Konzept integriert, erinnert an Werke des berühmten polnischen Künstlers Tadeusz Kantor. An einer Ecke des „Plac Bohaterów Getta“ befindet sich die alte Apotheke, jetzt ein Museum, in der der Apotheker Tadeusz Pankiewicz als einziger Nichtjude wohnte und die Ghettobewohner unter größter Gefahr für sein eigenes Leben mit gefälschten Dokumenten, Lebensmitteln und Pharmazeutika unterstützte. Pankiewicz gehört zu den „Gerechten von Yad Vashem“, Jerusalem.
In der ehemaligen Apotheke hängt neben der Eingangstür das Foto eines Mädchens, das einen Stuhl über die Weichsel trägt – zu ihrer neuen „Unterkunft“ im Ghetto. Das macht die Symbolik der Stuhl-Installation noch deutlicher.
Ruth Fruchtman hat hier ein neues Zuhause gefunden, in Podgórze, das bis 1913 eine eigene, unabhängige kleine Stadt war und heute Vorstadt von Krakau auf der anderen Seite der Weichsel ist. Noch jetzt scheint der Stadtteil mit seiner durchgehenden Niedrigbebauung nicht ganz zur Großstadt Krakau zu gehören. „Die Juden mußten aus Krakau über die Brücke hierher laufen, sozusagen vor die Tore der Stadt.“
Mit diesen Worten geht Ruth über die lange Brücke, die von Podgórze hinüber nach Kazimierz führt. Kazimierz ist viel lieblicher, stilvoller als der Vorstadtbezirk, der von vielen Brachen und Industriegebieten gezeichnet ist.
In Kazimierz kann der Tourist vielleicht etwas vom alten Galizien wiederfinden, hier scheint das multikulturelle Erbe dieser Regionen besonders spürbar – in den vielen krummen Gäßchen und Lädchen, den Cafés, in denen die Zeit stehengeblieben sein könnte. Da sitzt man neben alten Fotos auf verrußten Wänden und unglaublich ungesund aussehenden Kuchen in den Vitrinen. Über den Läden und Cafés, an denen Ruth vorbeieilt, sieht man gelegentlich hebräische Schriftzeichen. Je mehr es werden, desto näher ist man dem Zentrum von Kazimierz in der Szeroka Straße, der Breiten Straße, die hier in einen großen Platz mündet. Ruth Fruchtman weist auf das „Ariel“ hin. Hier wird abends Klezmer-Musik gespielt, und die vielen Sprachen, die man hört, verraten, aus wie vielen Ländern Reisende hierherkommen.
Die Schriftstellerin schüttelt den Kopf über die Touristen, die denken, bloß weil der Bezirk Kazimierz jetzt wieder als jüdische Enklave in Krakau gilt, sei dies auch der Bezirk gewesen, in dem damals das Ghetto errichtet wurde. „Im Gegenteil, aus Kazimierz wurden die Juden ja auf die andere Seite des Flusses vertrieben!“ Mit der jüdisch-polnischen Geschichte hat sich Ruth Fruchtman intensiv auseinandergesetzt. Deshalb kann sie auch das in so vielen Reiseführern beschworene „neue jüdische Leben“ in Krakau als Illusion enthüllen. „Vor dem Krieg gab es 70.000 Juden in Krakau – sie machten 25 Prozent der Stadtbevölkerung aus. Heute sind nur noch 200 Synagogenmitglieder gemeldet“, erzählt sie, während wir über den Plac Nowy (früher: Altjüdischer Markt) schlendern, einem Platz mit vielen Kneipen und einem äußerst lebendigen Basar in der Mitte. Viel mehr als ein Bezirk authentischen jüdischen Lebens ist Kazimierz jetzt nämlich ein „hipper“ Studenten- und Künstlerbezirk. Hier, keinen Steinwurf von der Alten Synagoge und der Szeroka-Straße entfernt, sitzen überall junge Leute mit Rasta-Locken und ausgewaschenen Cordhosen in den Straßencafés oder einfach auf dem Bürgersteig. Die Stimmung ist gut, jemand hat eine lila angemalte Geige dabei, es wird laut gelacht und gesungen. Kazimierz, das auch außerhalb der eigentlichen Altstadt – dem touristischen Zentrum von Krakau – liegt, ist eine überraschende Mischung aus folkloristischen Elementen und einer vitalen Jugendkultur, die sich immer dort ansiedelt, wo die Mieten „stimmen“. Ruth schaut noch beim jüdischen Zentrum vorbei, wo sie Freunde hat, bevor wir uns auf dem Weg zurück in ihre kleine Wohnung in Podgórze machen.
In der Einzimmerwohnung sieht man dem Bücherregal an, daß Ruth Fruchtman nur ihr Unentbehrliches mitgenommen hat. Diese Wohnung, spürt man, wurde nicht für hektische Wochenendtrips hergerichtet; kein Jet-set-Leben zwischen den alten West- und den neuen Ost-Metropolen, eher das einer zurückgezogen lebenden Individualistin – vielleicht auch ein wenig aus einer anderen Zeit – weht einen hier an. Daß wir das Jahr 2006 schreiben, spürt man erst, wenn der Blick auf den Laptop und den Drucker auf dem kleinen Schreibtisch fällt.
Warum Krakau? Ruth lacht. 1985, erzählt sie, war sie das erste Mal in Warschau, dann in Krakau und hätte sich in die Stadt „einfach verliebt“. In die Stadt, wohlgemerkt, nicht in einen Menschen in dieser Stadt.
Jahrelang hatte Ruth, die Jüdin ist, Angst, Polen zu besuchen. „Die ersten Dinge, die ich über die Polen hörte, waren sehr negativ“, sagt sie, während sie einen Kräutertee aufgießt. Es ist warm in ihrer orangegestrichenen Küche, die Scheibe beschlägt von innen. Draußen, direkt hinter ihrem Fenster, fußläufig, verdichtet auf wenige Quadratkilometer, findet Ruth Fruchtman nicht eben wenige Spuren zurück in die Vergangenheit: der Sammelplatz für die Juden, die Emaille-Fabrik von Oskar Schindler und Płaszów, das riesige ehemalige Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager. Ruth ist es wichtig zu betonen, daß auch nichtjüdische Polen in Płaszów ermordet wurden. Und Auschwitz liegt nur 40 Kilometer südwestlich von Krakau. „Polen, das war für mich das Land, in dem die Juden ermordet wurden. Ein sehr düsteres Land. Und ich wußte, wenn ich hierherkomme, würde ich Auschwitz besuchen müssen … und ich dachte, ich schaffe das nicht.“ Während sie den Tee aufgießt und ein Stück der in Krakau sehr beliebten leuchtend rosafarbenen, zuckerwatteartigen Torte löffelt, sagt sie leise: „Am Anfang ist mir das ganze Land vorgekommen wie ein Friedhof. Auch meine polnischen Bekannten sagten: Dies ist ein sehr trauriges Land.“ An der Art, wie Ruth Tee trinkt, Kuchen ißt, merkt man, daß sie ein Mensch ist, der nicht nur über das Leben grübelt, sondern es auch genießen kann. Lebhafter fährt sie fort: „Aber dann war ich tatsächlich hier in Polen, und es war so ganz anders als ich es mir vorgestellt habe! … Ich fand die Polen so sympathisch! Das Land hat mich so angezogen, es war so anders, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.“
Auch ein Teil von Ruths weitverstreut lebender Familie, die ursprünglich aus Polen und Litauen stammte, hat die Nazi-Diktatur nicht überlebt. Einige Familienmitglieder sind aus dem besetzten Paris deportiert worden. Französisch, Englisch und Deutsch spricht Ruth, auch ein wenig Italienisch. Aber die kosmopolite Schriftstellerin ist selten zufrieden mit sich. Seit einigen Jahren lernt, besser gesagt: spricht sie auch Polnisch, aber es ist in ihren Augen natürlich nicht der Rede wert. Ruth Fruchtman wurde zwar in London geboren, sie schreibt allerdings nur in Deutsch, ihrer zweiten „Muttersprache“, wie sie es nennt. In ihren Erzählungen und in ihren zahlreichen journalistischen Beiträgen setzt sie sich mit der polnisch-jüdischen und der israelisch-palästinensischen Problematik auseinander.
Es gibt einen besonders schönen Ort in Krakau: die Villa Decius. In dem malerischen Renaissance-Schlößchen, das Stipendien für Schriftsteller vergibt, begann Ruth die Arbeit an ihrem noch unvollendeten Roman „Krakowiak“. Der Krakowiak – ein typisch polnischer Tanz – ist in Krakau entstanden, und auch der Roman ist „in Tanzform komponiert“. Es ist eine Familiengeschichte über die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Polen, ein hoffnungsvoller Roman, in dem das Verhältnis zueinander als ein versöhnliches gedacht wird. Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist jedoch – wen überrascht es? -, die Stadt Krakau selbst.
Ruth ist jetzt an die beschlagene Fensterscheibe getreten: „Chopin hat ein sehr schönes Rondo komponiert … das heißt auch ‚Krakowiak’…“ Sie macht kleine Schritte vor sich hin, als wolle sie, allein vor dem Fenster, die in der Dämmerung schimmernden Häuser und Kirchen aus Gotik, Renaissance und Barock zum Tanz auffordern.
Wie lebt es sich heutzutage als Jüdin in Polen? Ist man, wenn man seinen ersten Wohnsitz ausgerechnet in Berlin hat, jetzt völlig frei von quälenden Gedanken? Es wird doch auch, nicht zu Unrecht, viel vom polnischen Antisemitismus gesprochen. Man denke an die durch die Medien publik gewordenen markigen Äußerungen der heutigen Bewohner Jedwabnes über den Mord an hunderten von Juden in ihrem Städtchen mitten im Krieg. Von Scham und Reue, auch nach 60 Jahren, keine Spur. Wie sind die Erfahrungen von jemandem wie Ruth? „Daß ich jüdisch bin, hat hier in Krakau niemanden interessiert. Ich fühle mich als Mensch angenommen. Dieses ewige Antisemitismus-Vorurteil gegen die Polen … ich finde das manchmal paranoid, wenn es von Juden kommt …“ Ruth macht eine kleine Pause, bevor sie hinzufügt: „Und maßlos unfair, wenn es aus Deutschland kommt.“
Dann räumt sie aber doch ein: „Erst wenn ich jemanden besser kenne, sag ich, daß ich jüdisch bin. Mittlerweile hat es sich im Haus herumgesprochen … einer gewissen Erwähnung bedarf es noch immer.“
Wo verortet sich jemand wie Ruth, die in so vielen Ländern zu Hause ist, so viele Sprachen spricht, an so vielen verschiedenen Orten gelebt und Tote betrauert hat?
„Ich habe einen britischen Paß … ich spreche und schreibe in deutsch, ich betrachte mich als Berlinerin“, sagt Ruth, „ach, als Europäerin.“ Und fügt hinzu: „Mit zweitem Wohnsitz in Krakau.“
Mit einem hintergründigen, feinen Lächeln, von dem man nicht weiß, wem es eigentlich gilt – einem Land, einer Stadt, einer Sprache oder einem Menschen -, gießt sie noch einen Tee auf.
* * *
Das Café Redolfi liegt direkt am Rynek, dem Herzen von Krakau. Jeder, der hier wohnt, soll wenigstens einmal am Tag über den Marktplatz flanieren, heißt es in einem Sprichwort. Und belebt, wie der Rynek zu fast jeder Tages- und Nachtzeit ist, scheinen sich auch alle Einwohner daran zu halten. Schließlich sind alle stolz auf ihren Platz. Übrigens haben die vielen Obst- und Gemüseabfälle, über Jahrhunderte, sein Niveau mittlerweile um mehr als einen Meter – im Vergleich zu den Zeiten seiner ersten Erwähnung – 1300 n. Christus – angehoben. Und wer vom Rynek zur Wawelburg geht, dem alten polnischen Königssitz, fühlt sich mühelos in ein anderes Jahrhundert versetzt. Nur die großen Werbeplakate der neuesten Handy-Modelle stören das mitteleuropäische Panorama des großen Marktplatzes mit der Tuchhalle aus der Zeit der Renaissance, dem Wahrzeichen der Stadt, und dem Denkmal des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz.
Auch das Redolfi hat seinen alten Charme bewahrt und erinnert mit seinen schweren dunklen Möbeln, den Brokatvorhängen und den beflissenen Kellern in schwarzen Anzügen an längst vergangene Zeiten: An das alte Galizien, das unter österreichischer Herrschaft nicht nur ein Dutzend unterschiedlicher Sprachen, sondern auch eine der größten jüdischen Gemeinden in Europa aufzuweisen hatte. Wlodzimierz Zaremba-Smietanski paßt nicht nur wegen seines Alters in das Ambiente des Redolfi. Sein grauer Anzug sitzt perfekt, seine Manieren sind tadellos. Nur das Abzeichen am Revers harmoniert nicht so recht mit der gediegenen Atmosphäre. „Kämpfer in der Schlacht um Berlin“ ist darauf zu lesen.
Wlodzimierz Zaremba-Smietanski ist eines der letzten Mitglieder der Gesellschaft der jüdischen Abteilung der „Kombattanten und Opfer des zweiten Weltkriegs“ in Krakau, deren Vorsitzender er auch ist. „Das Leben hat es selbst so gerichtet“, erzählt er und nippt an seiner heißen Schokolade. „Es sind nur noch eine Handvoll von uns übriggeblieben. Wir treffen uns regelmäßig, reden über alte Freunde, singen gemeinsam“. Häufig sind die Anlässe alles andere als erfreulich. Dann muß wieder ein alter Freund zu Grabe getragen werden. Die gesamte jüdische Gemeinde in Polen zählt gerade mal 2000 Mitglieder, in Krakau lebt ein Zehntel davon. Und mit jedem Jahr wird der Kreis ein bißchen kleiner.
Daß Wlodzimierz überlebt hat, erscheint ihm selbst als ein Wunder. Aus einer kleinen Stadt am Bug wurde er 1942 zusammen mit allen anderen jüdischen Einwohnern von den Nazis auf einen Todesmarsch nach Sobibor getrieben. Wlodzimierz hatte Glück: Ihm gelang die Flucht, und er konnte sich zwei Jahre lang verstecken. Nachdem die sowjetischen Truppen bis in das Generalgouvernement vorgedrungen waren, schloß er sich der Armia Ludowa an. Mit ihr marschierte er wieder: diesmal bis nach Berlin, wo er den Untergang des Dritten Reiches erlebte.
„Ich war oft fremd in der Welt“, erzählt Wlodzimierz. Nach dem Krieg lebte er zunächst in Warschau, wo er auch geboren ist. Später arbeitete er als Ingenieur häufig im Ausland, lernte ein halbes Dutzend Fremdsprachen. Er hat Freunde in vielen Ländern, in letzter Zeit sogar in Deutschland. Im vergangenen Jahr war er zum ersten Mal wieder in Berlin. Ein Leben außerhalb von Polen hat er dennoch nie ernsthaft in Betracht gezogen – selbst 1968 nicht, als nach einer staatlichen Kampagne gegen „Zionismus“ und „Kosmopoliten“ ein großer Teil der jüdischen Gemeinde in der größten Auswanderungswelle nach dem Krieg das Land verließ.
Auch wenn sich die Verhältnisse in den vergangenen Jahren dramatisch geändert haben, scheinen manche Vorurteile sämtliche gesellschaftlichen Umbrüche zu überleben. Gerade im konservativen Krakau stößt die kapitalistische Moderne mit ihrem Faible für jugendlichen Hedonismus, den überall präsenten „Biznes-Men“ und der gleichzeitigen neuen sozialen Differenzierung auf eklatante Widersprüche. Während die verschiedenen Regierungen in Warschau den Aufbruch nach Europa verkündigten und die Wirtschaft radikal liberalisierten, predigt in Krakau die rechtspopulistische Partei „Liga Polnischer Familien“ (LPR – polnisch: Liga Polskich Rodzin) die Verteidigung der „polnischen“ Werte: Kinder, Kirche, Küche – gegen die verführerische Dekadenz des Westens.
Wlodzimierz, der heute als Rentner zusammen mit seiner Frau am Stadtrand von Krakau lebt, verfolgt aufmerksam die Entwicklung seines Landes. „Die polnische Gesellschaft ist heute zersplittert“, meint er und hebt seine markanten Augenbrauen. „Die politische Klasse ist vielen verhaßt. Manche glauben, daß es für die Gesellschaft keine gemeinsamen Ideale mehr gibt. Und in diesem Kampf ist vieles erlaubt, auch der Antisemitismus – selbst wenn sich die meisten Strömungen nicht mehr als Antisemit bezeichnen möchten.“ Wie etwa der ultrakonservative Flügel der katholischen Kirche um „Radio Maria“, einen der meistgehörten Sender in Polen.
„Radio Maria“ empörte sich zum Beispiel darüber, daß Czesław Miłosz (Träger des Literatur-Nobelpreises von 1980) im August 2004 in Krakau beigesetzt wurde, obwohl er viele Jahre in den USA und in Frankreich gelebt hatte. Ein klarer Fall von mangelndem Patriotismus, wie viele glauben. Auch Miłosz‘ Haltung zu aktuellen Ereignissen machte ihn bei den konservativen Katholiken nicht beliebter: So eilte er noch im Sommer 2003 der „Bewegung gegen Homophobie“ zu Hilfe. Gemeinsam mit der 1996 ebenfalls mit dem Nobelpreis geehrten Dichterin Wisława Szymborska forderte er die Krakauer dazu auf, unterschiedliche Lebensstile zu respektieren. Genützt hat dies indes nicht viel.
Doch die turbulenten Zeiten eröffnen auch Perspektiven, meint Wlodzimierz. Viele jüdische Emigranten kommen als Besucher oder als Geschäftsleute zurück in die alte Heimat, und dieser „Tourismus“ hat der Stadt sogar einen kleinen Boom beschert. In keinem Stadtführer fehlt mittlerweile der Hinweis auf das neue „jüdische Leben“ in Krakau und auf die zahlreichen koscheren Restaurants. Der kulinarische Aufschwung scheint mittlerweile sogar Vorbehalte zu überwinden. In einigen der „orginal-jüdischen Lokale“, sagt Wlodzimierz lachend, „bekommen die Gäste mittlerweile gefillte Fisch von einem katholischen Koch serviert“.