veröffentlicht auf ZEIT Online, April 2014
Fremdsprachenerwerb statt Versteckspiel, Frühförderung statt Höhle bauen, langes Stillsitzen in der Schule statt Welterkundung mit Händen und Füßen. Anstatt Kindern Raum und Anlass für Bewegung zu geben, wird in erster Linie auf die intellektuelle Ausbildung gesetzt.
Die Deutsche Lebensrettungsgemeinschaft (DLRG) warnt: Jeder dritte Elfjährige in Deutschland kann nicht schwimmen. Tendenz abnehmend: Konnten Ende der 1980er Jahre noch mehr als 90 Prozent der Viertklässler in Westdeutschland schwimmen, seien es nun bundesweit nur noch 70 Prozent.
Ein Grund dafür ist, dass viele Schwimmbäder schließen mussten. „Wir haben in den letzten zehn Jahren 1.100 Bäder verloren für die Ausbildung“, sagt DLRG-Präsident Klaus Wilkens. In mehr als 20 von 100 Grundschulen kann nun kein Schwimmunterricht mehr stattfinden, weil das nächste Bad zu weit entfernt ist. Die Lebensretter befürchten, dass die Zahl der Badeunfälle steigen wird. Im vergangenen Jahr sind über 400 Menschen in Deutschland ertrunken.
Konzentrationsschwäche und Übergewicht
Parallel dazu zeigen viele andere Studien, dass Kinder deutliche Defizite in ihren Bewegungsmöglichkeiten aufweisen. Aufschlussreich ist zum Beispiel der Blick auf den sogenannten MOT 4-6, ein standardisiertes Verfahren, das den motorischen Entwicklungsstand vier- bis sechsjähriger Kinder misst. Mit diesem Test werden die Koordinationsfähigkeit, feinmotorische Geschicklichkeit, Gleichgewichtsvermögen, Reaktionsfähigkeit, Sprungkraft, Bewegungsgeschwindigkeit und Bewegungssteuerung geprüft. Der Test wird seit 1984 durchgeführt. Heute werden „deutlich schlechtere motorische Grundfertigkeiten“ festgestellt als Mitte der achtziger Jahre, heißt es im Bericht.
Daniel Bott, Gesundheitsexperte der SBK, sagt: „Abnehmende körperliche und motorische Leistungsfähigkeit, Konzentrationsschwächen sowie Übergewicht sind nur einige der unmittelbaren Folgen, ganz zu schweigen von den gravierenden Spätfolgen wie Herz- und Kreislaufschwächen, Rückenleiden, Diabetes oder Arthrose im Erwachsenenalter.“
Erstklässler können lesen, aber keine Schleife binden
Die Nachricht über schwimmuntüchtige, unsportliche Kinder fügt sich in ein Gesamtbild: Immer mehr Eltern tun alles dafür, ihr Kind kognitiv auszubilden, immer weniger Zeit bleibt für schlichtes Herumtoben und für das Erlernen praktischer Fähigkeiten. So können viele Erstklässler heute keine Schleife mehr zubinden, weil sie nur noch Schuhe mit Klettverschluss tragen. Auch Kochen und Backen werden seltener erlernt, denn immer weniger Kinder erleben ihre Eltern dabei. Stattdessen haben viele Eltern ihren Kindern schon vor der ersten Klasse Lesen und Schreiben beigebracht.
Aber nur etwa 24 Prozent der elfjährigen Mädchen und etwa 30 Prozent der gleichaltrigen Jungen bewegen sich eine Stunde oder mehr pro Tag. Die Eltern selbst sind oft auch kein Vorbild: 45 Prozent der deutschen Erwachsenen treiben keinen Sport und nur jeder achte erreicht die derzeitigen Empfehlungen für ausreichende körperliche Aktivität.
Auch wenn keine direkte Korrelation besteht, ist auffällig, dass parallel zu den schwindenden motorischen Fähigkeiten der Kinder, wesentlich mehr Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt werden. ADHS wird dreimal so häufig getestet wie vor 10 Jahren. Heutzutage erhält jeder vierte Junge bis zum Alter von 21 Jahren die Diagnose ADHS gestellt. Auch wenn es zweifellos Kinder gibt, auf die das Krankheitsbild „ADHS“ zutrifft und denen mit den Medikamenten geholfen werden kann, so ist doch, nach Meinung vieler Fachleute, ein Großteil der 600.000 täglich in Deutschland mit Ritalin beruhigten Kinder einfach motorisch nicht richtig ausgelastet. Erst im letzten Jahr konnte der kontinuierliche Anstieg der Diagnose gestoppt werden und der Verbrauch von Ritalin ist wieder leicht zurückgegangen.
Eltern und Schule geben den Druck weiter
Es wäre zu einfach, nur auf die Mütter und Väter zu schimpfen: Der Schweizer Kinderarzt und emeritierte Professor für Kinderheilkunde Remo Largo, sagt: „Die Eltern haben begreiflicherweise Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Und so geben sie den Druck an ihre Kinder weiter.“ Eltern geben in Deutschland eine Milliarde Euro pro Jahr für die Nachhilfe ihrer Kinder aus. Die Pisa-Studien haben wiederum die Bildungspolitiker aufgeschreckt. Mit Reformen setzen sie die Schulen unter Druck, die den Druck ebenfalls an die Kinder weitergeben.
Dabei ist belegt, dass Bewegung nicht nur gesundheitlichen Problemen vorbeugt, sondern auch die geistige Entwicklung und Kreativität fördert. Die Sauerstoffversorgung des Gehirns ist besser. Sowohl Kinder als auch Erwachsene sind ausgeglichener und können mit Stress besser umgehen. Wer sich viel bewegt, hat eine höhere Gedächtnisleistung. Und jenseits aller Leistungen: Die meisten Kinder haben einfach Freude an Bewegung!
© Tanja Dückers, April 2014