veröffentlicht in Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstandes, Ausgabe September 2015
Mir sitzt ein schmaler, kleiner Mann mit einer schwarzen Lederkappe im Thälmann-Stil gegenüber. Herr Al-Azzawi berichtet aus seinem bewegten Leben: 1940 in Kirkuk, der berühmten Erdölstadt im nördlichen Irak, geboren, wurde er in den 70er Jahren von Saddam Husseins Baath-Partei so unter Druck gesetzt, für zwei Jahre inhaftiert und gefoltert, dass ihm nur die Auswanderung blieb. 1977 – mitten im Kalten Krieg – konnte er über den Journalistenverband nach Leipzig ausreisen. Einfach war sein Leben dort nicht: Man entzog ihm den Pass, er konnte lediglich mit einem diplomatischen Pass als Auslandskorrespondent für arabische Medien arbeiten. Während üblicherweise damals eine Wohnung 150-200 Mark kostete, musste er 1500 blechen. Aber er blieb, er nutzte seine Reisefreiheit, die ihm als Auslandskorrespondent zustand – .Wann er denn mal wieder in Kirkuk gewesen wäre, möchte ich wissen. Gar nicht, lautet die Antwort. Fadhil Al-Azzawi, einer der bedeutendsten auf Arabisch schreibenden Gegenwartsautoren, zuckt die Schultern: Ich telefoniere ab und zu mit meinen Schwestern, sagt er. Sie leben immer noch dort. So lange Hussein regierte, wäre es lebensgefährlich für ihn gewesen, in den Irak zurückzukehren. Einmal war er in Erbil und Suleymanyiah, in den von Kurden kontrollierten Städten im Norden.
Im Moment wäre es auch sehr schwierig, nach Kirkuk zu reisen: Der IS besetzt schon seit Juni 2014 große Gebiete im Provinz Kirkuk, darunter die arabisch-sunnitische Stadt Hawija im Südwesten von Kirkuk und attackiert jetzt Kirkuk selbst von drei Seiten. Herr Al-Azzawi erzählt: „Mit den IS-Truppen, die die Stadt Kirkuk bedrohen und nur wenige Kilometer entfern sind, leben die Einwohner der Stadt in Angst und unter einem starken psychischen und politischen Druck. Die Schlacht um Kirkuk könnte unvorhergesehene Folgen haben. Sollte der IS die Stadt besetzen, würden Hunderttausende von Christen und Kurden nach Kurdistan flehen. Aber so ein Alptraum wird die ganze Lage radikal verändern. Das Problem liegt darin, dass die Einwohner der Stadt, die Sunniten sind, die Präsenz der schiitischen Milizen in ihrer Stadt ablehnen. Diese Milizen, mit ihren iranischen Generälen, die sie steuern und militärisch führen, begangen in verschiedenen Gebieten unzählige Verbrechen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung. Nach einer siegreichen Schlacht in der Provinz Diyala enthaupteten sie 72 Bauern, zerstörten ihre Häuser und Moscheen, und verboten den Vertriebenen die Rückkehr in ihre Dörfer.“
Daher ist Al-Azzawi auch mit der Rolle der Amerikaner wenig zufrieden: „Der größte Fehler der Amerikaner nach der Besetzung Irak war, dass sie mit der Religion pokerten. Anstatt der modernen und demokratischen Kräfte im Irak zu unterstützen, brachten sie fanatische schiitische Milizen an die Macht und spalteten damit die Gesellschaft. Hunderttausende wurden ermordet oder mussten das Land verlassen. IS selbst verkörpert in seinem Wesen die blutige sunnitische Antwort auf die schiitische Unterdrückung der Sunniten: Zwei Monster, die im Namen der Religion gegeneinander kämpfen. Um den Krieg gegen den Terror zu gewinnen, müssen wir die Politik von der Religion entfernen und Allah von den Ketten der Religionshändler befreien.“
Herrn Al-Azzawi deprimiert besonders, dass die Stadt, die so lange als „Modell der Modernität für einen demokratischen und multikulturellen Irak“ galt, durch eine Herrschaft von religiösen Fanatikern ins Mittelalter zurückgeworfen und ihren „säkularen Geist“ verlieren würde. Für den IS, so Al-Azzawi, befände sich der „goldene Gipfel der Zivilisation irgendwo in der Vergangenheit“. Jetzt fällt ihm noch etwas ein, was man ihm kürzlich aus seiner Heimat erzählt hat: „Der Lieblingsslogan der IS Terroristen, den sie wiederholt laut rufen, geht so: Einer schreit ‚Der islamische Staat!’. Die anderen antworten im Chor mit einer Stimme ‚wird fortdauern’.“ Fadhil Al-Azzawi schüttelt langsam den Kopf und meint: „Es scheint, dass sie nicht mal fühlen oder begreifen, wie viel Zweifel und Unsicherheit liegt in ihrem eignen Slogan. Die islamische Geschichte selbst zeigt, dass die Terrorregime normalerweise eine kurze Weile dauern, aber niemals fortdauern können. Und der IS wird keine Ausnahme sein.“
Seiner Meinung nach wird der terroristische Angriff auf Kirkuk am Ende scheitern, aber „der Siegespreis könnte zu hoch sein“. Denn die amerikanische Strategie, die Stellungen des Feindes von Luft zu bombardieren, verwandelt viele Städte wie beispielsweise Kobani in Ruinen. „Die Einwohner von Kirkuk fürchten nicht nur den Vormarsch der islamischen Killerherden, sondern auch die amerikanischen Bomben, die ihre Stadt vernichten können. Sie stehen zwischen den Feuern und hoffen schweigend auf ein baldiges Ende dieses satanischen Fluchs“, so der Schriftsteller.
Aber er habe begriffen, dass man sich nicht nur an eine Heimat klammern kann. In Berlin – er lebt mit seiner Frau, die ebenfalls Bücher schreibt und auch Bildende Künstlerin ist – in Lichtenberg, fühlt er sich wohl. „Ich habe irgendwann angefangen, die ganze Welt – nein, die Orte, an denen ich mich frei bewegen und schreiben kann, was ich möchte – als meine Heimat zu betrachten. Es gibt viele wunderbare Menschen an verschiedenen Orten.“ Und über den Irak: „Es gibt 22 arabische Länder, ich werde zu Lesungen nach Ägypten und Jordanien und anderswohin eingeladen – dann fahre eben nicht in den Irak“. Nicht, dass die neuen Machthaber nicht versucht hätten, ihn einzuladen. Aber Al-Azzawi möchte nicht für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werden, Seite an Seite mit Politikern fotografiert werden. Also hat er abgelehnt. In der arabischsprachigen Welt ist er ein Star. Seine Bücher verkaufen sich sehr gut – und auch in den USA wird er viel gelesen. Sein neuer Roman „Der Letzte der Engel“ ging dort mit einer Startauflage von 200.000 Stück vom Lager.
„Der letzte der Engel“ ist nun bei Dörlemann auf Deutsch erschienen. Dass es 22 Jahre gedauert hat, bis der Roman, den Al-Azzawi als sein bisheriges Hauptwerk bezeichnet, hierzulande erschienen ist, ist nicht nachvollziehbar. Es ist sicher eines der wichtigsten Bücher über die arabischsprachige Welt und gleichzeitig literarisch in seiner Skurrilität, seinem untergründigen Humor, seinem arabesken Erfindungsreichtum, seiner stilistischen Eleganz und Lust am Fabulieren einfach ein Juwel. Anhand von verschiedenen Protagonisten erzählt Al-Azzawi die Geschichte des Chukor-Viertels in Kirkuk. Auch wenn man wie wohl die meisten deutschen Leser noch nie in Kirkurk gewesen ist, steht dieses Viertel bald in leuchtenden Farben vor einem. Vordergründig spielt die Handlung in den späten 50er Jahren, doch die vielen Parallelen zur Gegenwart machen den Roman besonders interessant. Scheinbar realistisch, werden verschiedene Realitätsebenen, auch Träume und Halluzinationen, so eng miteinander verwoben, dass der Leser zum Teil nicht mehr weiß, welche Ebene nun eine Utopie (nach mehr Gerechtigkeit – kurz wird eine Episode des Chukor-Viertels ohne Geldverkehr beschrieben), eine Rückblende oder einen Alptraum beschreibt. Am Ende siegt die Freiheit, auch wenn Burhan Abdallah, eingangs ein prophetisch begabte Kind, nun ein alter Heimkehrer, dafür sein Leben lassen muss. In dem Moment, in dem er fürchtet, von „Soldaten mit gezückten Bajonetten“ erdolcht zu werden, „spürte er, wie sich seine Hände in Schwingen verwandelten. Er schlug damit in die Luft, so dass er stieg und stieg, hoch und höher, bis er in den Tiefen das Alls verschwand“.
Wie Fadhil Al-Azzawi verrät, ist vieles in dem Roman selbsterlebt. Vom verrückten Onkel, der in Russland die im Ersten Weltkrieg verschollenen Verwandten suchte bis hin zu Kinderspielen wie: einen an einen Faden befestigten Geldschein Faden auf die Straße zu legen, bis sich ein alter Jude gierig bückt, um ihn aufzuheben – dann wird der Schein von dem im Gebüsch lauernden Kindern weggezogen. Ja, ein alter Jude. Erstmal schluckt man, wenn man das liest. Dann aber muss man lachen: Turkmenen, assyrische und aramäische Christen, Kurden, sunnitische und schiitische Araber und Juden lebten in der ausgesprochen multiethnischen, multikulturellen Stadt Kirkuk zusammen. Und über jeden bestehen Vorurteile, jeder bekommt sein Fett ab. Doch als Fatima, die Frau von Hamid Nylon, einem der Helden aus dem Roman, lange Zeit kein Kind empfangen kann, wird sie zu Juden, Christen und turkmenischen Muslimen im Viertel geschickt, um sich jeweils mit einem Wundermittel der Nachbarn helfen zu lassen. Das multiethnische Miteinander im Kontrast zur Gegenwart kann man als einen roten Faden, das heimliche Hauptthema, in dem burlesken, vielstimmigen (Un-)Sittengemälde verstehen.
Nebenbei erwähnt Al-Azzawi, dass er als Kind Turkmenisch gelernt habe. „Als ich letztens in Istanbul auf einem Poesiefestival war, konnte ich mich mit den Türken unterhalten und sogar ein Gedicht von mir auf Türkisch vortragen“, freut er sich. Noch im Irak hat er in Bagdad englische Literatur studiert und darin promoviert.
Als ich auf die fragwürdige Rolle der Briten (Mesopotamien war nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ende des 1. Weltkriegs britisches Mandat, erst 1959 verließen sich letzten britischen Truppen das Land) zu sprechen komme, lächelt er vorsichtig über meinen Eifer. Ich äußere die Ansicht, es sei möglicherweise ein Fehler der Briten gewesen, die unterschiedlichen osmanischen Provinzen – Mossul (kurdisch), Bagdad (sunnitisch), Basra im Süden (schiitisch) – in einen neuen Einheits-Staat, der so nie existiert hat, zu zwängen. Herr Al-Azzawi weist nun daraufhin, dass in Städten wie Kirkuk die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen seit 1400 Jahren relativ friedlich zusammengelebt hätten. Überhaupt scheinen die Zeiträume, in denen Herr Al-Azzawi denkt, auf deren Fundament er aufgewachsen ist, andere Größenordnungen zu haben: Erbil, 200 Kilometer weiter nordwestlich als Kirkuk, ist mit 7000 Jahren menschlicher Besiedlung eine der ältesten durchgehend genutzten Städte überhaupt.
Wenn man mit Fadhil Al-Azzawi spricht, kommt man nicht umhin, traurig zu werden. Das Irak, das wir in den letzten Jahren, Jahrzehnten, mit Blick auf die drei Golfkriege seit 1980, aus den Nachrichten kennen, ist eine Wüste an Gewalt und Terror. Und hier tut sich eine Kultur auf, die in der Tagespolitik nie Erwähnung findet. Nur einmal glänzte etwas davon auf: In dem Bericht über die Plünderung des Bagdader Nationalmuseums, die von Anthropologen, Historikern und Kunstkennern aus aller Welt beklagt wurde.
Vielleicht hat das negative Bild des Iraks auch dazu beigetragen, dass sich hierzulande so lange niemand für Herrn Al-Azzawis 500-seitiges Meisterwerk interessiert hat? Aber Herr Al-Azzawi will sich gar nicht lange mit dieser müßigen Frage aufhalten. Ihn beschäftigt etwas Anderes: „Ich könnte ja mal über meine Zeit in der DDR schreiben!“ Ich erinnere ihn an das traurig-kuriose Buch „An Iraqui in Paris“ des in Frankreich lebenden Exilirakers Samuel Shimon – ein Freund von Al-Azzawi, der die Zeitschrift Banapal herausgibt. Al-Azzawi ist Mitherausgeber. „Ja, ein Iraki in Berlin“, räsoniert Al-Azzawi. „Ich habe so viel hier erlebt!“. In einem anderen Interview hat er mal von „den alten Männern in der DDR, die von der Macht nicht lassen konnten und ihr Land terrorisierte“, gesprochen, „ auch mit ihrem intellektuell – wie ich finde – niedrigem Niveau“. Liebäugelte er denn damals mit dem Sozialismus? In „Der Letzte der Engel“ gründet Hamid Nylon (diesen Spitznamen bekam er verpasst, weil ihm unterstellt wurde, der leichtfertigen Gattin des britischen Öl-Magnaten Herrn Tissow – nebenbei bemerkt Hamids Arbeitsgeber – nachzustellen) eine Gewerkschaft, versucht sich als Kommunist. „Da ist auch wieder einiges selbst erlebtes dran“, verrät Al-Azzawi. Und, ja, er habe auch ein Parteibuch besessen. Er war damals 18 Jahre alt und lebte im Königreich Irak unter den von den Briten eingesetzten König Fasil II. Doch schon mit 22 Jahren – einem Alter, in dem andere erst anfangen, sich politisch zu engagieren – brach Al-Azzawi wieder mit dem Kommunismus, ihm gefielen die Entwicklungen in der Sowjetunion nicht, und: „ich war dafür nicht gemacht“. In „Der Letzte der Engel“ beschreibt er augenzwinkernd, wie viele Kommunisten nur, wenn sie von Hamid bestochen wurden, an der Revolution teilnahmen. Ob er sich denn seitdem eine Ersatzreligion gesucht hätte? Überhaupt, sei er religiös? Fadhil Al-Azzawi lächelt wieder milde auf diese Weise, als hätte ich ihn etwas ganz Abwegiges gefragt. Dann schüttelt er entschieden den Kopf: „Nein, nicht doch, ich betrachte Religion als etwas Historisches“. Dann beginnt er zu lachen. „Mein Sohn, er ist jetzt 35 Jahre alt, hat mich letztens am Telefon gefragt: ‚Papa, sag mal, was sind wir denn eigentlich? Sunniten oder Schiiten?’ “ Fadhil Al-Azzawi grinst. „Wir wussten es beide nicht“. Dann fügt er noch an, „ich habe dann mal nachgeschaut, naja, auf dem Papier sind wir eben Sunniten“.
© Tanja Dückers, August 2015