veröffentlicht in Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands. Nr. 1/April 2015
Wenn ich Freunde frage, wie lange man wohl von Berlin nach Minsk fliegen würde, liegt keiner von ihnen richtig. Drei Stunden – das schätzten die vielgereisten Freunde im Durchschnitt. Tatsächlich braucht man von Berlin nach Minsk nur anderthalb Stunden. Über Warschau beginnt schon der Sinkflug, es breiten sich einige Seen, Sümpfe und Wälder unter mir aus – dann lande ich in der Hauptstadt von Belarus. Anlass meiner Reise ist eine Einladung des Goethe-Instituts Minsk – unter anderem hat es mir den Kontakt zu dem ehemaligen Zwangsarbeiter Lew Leonidowitsch Kolossow vermittelt, den ich interviewen möchte.
Zwei Dinge fallen dem Belarus-Erstbesucher sofort auf: Keine Reklame – außer für Lenin – am Rande der Schnellstraße, die vom Flughafen hinein in die Stadt führt. Und: Die Innenstadt von Minsk ist so sauber wie wohl keine andere Stadt Europas, mit Ausnahme von Zürich. Berlin kommt einem im Vergleich hierzu wie ein verwilderter, anarchistischer Garten vor. Minsk ist prächtig, wer ein Faible für stalinistische Architektur hat (ich habe ihn) kommt hier voll auf seine Kosten. Die Karl-Marx-Allee in Berlin nimmt sich niedlich aus im Vergleich zu den Minsker Prachtboulevards. Die Armut des Landes versteckt sich hier gut. Was auffällt, ist die geringe Anzahl von (erkennbaren) Ausländern in Minsk. Allein der internationale Flughafen ist winzig. Kein Wunder, es kommen nur gut zwei Millionen Gäste pro Jahr in das Land (zum Vergleich: allein nach Berlin kommen pro Jahr an die 12 Millionen Touristen). In meinem Hotel sind hauptsächlich Russen. Ich erfahre, dass sie gern nach Belarus kommen, „denn da sieht es ein bisschen so aus wie bei uns noch in den Achtzigerjahren“.
Etwas Stilles und Strenges liegt über der Stadt, das nicht so ganz zu der auffälligen Liebenswürdigkeit, fast Weichheit der Menschen zu passen scheint. Selten habe ich so viele hilfsbereite, am Gast interessierte, engagierte Menschen kennengelernt wie hier.
Ein Spaziergang durch die Stadt – in all ihrer stalinistischen Pracht – macht deutlich, wie sehr Minsk von den Deutschen zerstört wurde. 90 Prozent der Bausubstanz lag in Schutt und Asche. Anders als in Warschau, wo eine bürgerliche Oberschicht – zum Teil aus dem Exil – das Geld aufbringen konnte, die komplett zerstörte Altstadt wieder perfekt aufzubauen, stehen in Minsk nur wenige Häuserzeilen, die an die Zeit vor dem Einmarsch der deutschen Truppen erinnern. Auf alten Postkarten von Minsk kann man die Stadt schlicht nicht wiedererkennen. Immerhin wurde eine Handvoll historischer Sehenswürdigkeiten in der Oberstadt inzwischen sorgfältig renoviert: darunter das Rathaus aus dem 17. Jahrhundert und die strahlend weiße Heilig-Geist-Kathedrale des weißrussischen Exarchats der russisch-orthodoxen Kirche, deren beiden schlanken Türme aus dem realsozialistischen Häusermeer herausragen. Eine solche Auslöschung von Geschichte habe ich noch nirgendwo erlebt. Vielleicht erklärt dies auch, warum hier weniger Widerstandskraft, weniger kollektives Identitätsgefühl übrig war, um sich später erfolgreicher gegen Einflussnahme und autoritäre Beherrschung zur Wehr zu setzen. Die russische Dominanz ist überall spürbar: Ich erfahre, dass vor Kurzem überlegt worden war, den russischen Rubel in Belarus einzuführen – der Vorstellung gemäß, warum die Handelsbeziehungen nicht noch weiter vereinfachen, Belarus gehört doch eh zu Russland. Aber Lukaschenko hat diesen Vorschlag aus Russland diplomatisch ausgeschlagen. Im Fernsehen werden alle überregionalen Nachrichten auf Russisch gesendet. Die Nachrichten stammen von russischen Sendern, nur die Lokalnachrichten („ein Traktor stürzte in einen Fluss…“) sind auf Belarussisch und werden hier produziert, wie man mir erzählte. Als Lukaschenko eine Handelsunion mit der EU in Erwägung zog, folgten gleich Repressionsankündigungen aus Russland (Androhung einer massiven Erhöhung der Gaspreise), so dass Lukaschenko augenblicklich von seinem Plan abrückte und der Eurasischen Wirtschaftsunion (Russland, Kasachstan, Belarus) beitrat.
Doch Belarus ist unendlich viel mehr als „Lukaschenko“ – auch wenn im Westen der Name des Landes quasi synonym mit dem Namen des Dauerherrschers gleichgesetzt wird –, was eine böse Affirmation der Megalomanie Lukaschenkos bedeutet und die Bevölkerung einfach in Sippenhaft nimmt. Dieser verengte Blick verschließt dem westlichen Besucher jede Kenntnis der Vielfalt des Landes. Dennoch, die Selbstverständlichkeit, mit der meine belarussischen Kollegen beim gemeinsamen Essen in einem Restaurant auf ein gegenüberliegendes angestrahltes Gebäude zeigen und sagen „Ach, das ist unser KGB“ hat etwas Erschütterndes. Wenn man fragt: „Wie, KGB? Heißt das noch so?“ lautet die Antwort: „Man hat sich nicht die Mühe gemacht, den Namen zu ändern – es ist eben einfach so.“ Dann spürt man, spätestens bei dem „es ist eben einfach so“, die Melancholie eines Volkes, das keine erfolgreichen Umstürze oder Revolutionen kennt, fast immer unter Fremdherrschaft stand und das Eroberungsgebiet für Litauer, Polen, Russen und Deutsche gewesen ist. Vielleicht steckt aber auch eine stille Kraft darin zu sagen, wir können die großen Verhältnisse nicht ändern, wir ignorieren sie so gut es geht. Der Klügere gibt nach.
Diese vorsichtige Klugheit scheint vielen Belarussen zu eigen zu sein, die mir begegnet sind. Das gilt auch für Lew Leonidowitsch Kolossow. Wir trafen uns im Minsker Goethe-Institut, der dort ansässige Bibliothekar Alexander Nasartschuk fungierte freundlicherweise als Übersetzer aus dem Belarussischen.
Da steht er vor mir, der 82jährige großgewachsene Mann. Als er mir die Hand schüttelt, spüre ich wie viel Energie in ihm steckt. Vielleicht hat ihm diese Kraft geholfen, die Zeit, die er damals als verschlepptes Kind in einer Werkzeugfabrik arbeiten musste, zu überleben.
Herr Kolossow erzählt gern seine Geschichte – es ärgert ihn, dass er nicht noch öfter die Gelegenheit dazu hat. Vor einem halben Jahr war die Stiftung EVZ (EVZ steht für Erinnerung – Verantwortung – Zukunft; die Stiftung entschädigt im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland ehemalige Zwangsarbeiter in Mittel- und Osteuropa) in Minsk und hat sich mit ehemaligen Zwangsarbeitern befasst, aber er war nicht dabei gewesen. „Es sind immer die gleichen Vorzeigegesichter, die für solche Zwecke genommen werden“, sagt er bitter. Dabei ist seine Geschichte sehr eindrücklich:
Er war zwölf Jahre alt, als die deutsche Besatzungsverwaltung mit Hilfe der Schutzpolizei in sein Heimatdörfchen Luninez, in der Nähe des Pripjat, des größten Nebenflusses vom Dnepr, gelegen, eindrang und ihn und seine Familie verschleppte. Dieser Tag war der 8. Juli 1944, und Lew Kolossow wird ihn nie vergessen. Manchmal entscheiden wenige Stunden über ein Schicksal. „Hätte ich mich nur irgendwo verstecken können“, seufzt er jetzt. Denn wenige Stunden später zogen die Deutschen ab, nach über dreijähriger Besatzungszeit. Zwei Tage später, am 10. Juli, stand die Rote Armee in Luninez. So wird der Junge mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester noch von den im Abzug begriffenen Deutschen vom südlichen Weißrussland nach Königsberg und vom dort nach Brandenburg, Posen und Erfurt verfrachtet. „Schlimme Transporte waren das“, sagt Herr Kolossow. Von dort forderte die Firma „Gebrüder Heller“ die ganze Familie, inklusive der erst achtjährigen Schwester, als Arbeitskräfte in Schmalkalden, einer kleinen thüringischen Fachwerk-Ortschaft, an. Sie wurden in einem Barackenlager in der Nähe der Fabrik untergebracht. Es waren Baracken mit Lehmböden, dreistöckigen Pritschen, Läusen und Wanzen. Als Toilette dienten Löcher im Lehmböden, es stank. Nebenan befand sich eine Art „Krankenstation“. Wer dorthin kam, kehrte selten zurück. Diese Krankenbaracke nannten wir, so erzählt Lew Kolossow, „das deutsche Paradies“. Der kleine Lew musste sich den ganzen Tag an den Maschinen abplacken – jeden Tag von 8 bis 16 Uhr. Die Erwachsenen arbeiteten von 6 bis 18 Uhr, mit einer fünfundvierzigminütigen Mittagspause. Zwei bis drei Stunden benötigte man noch täglich zum Aufräumen der Halle. In dem Werk wurden – und werden noch heute – Werkzeuge hergestellt. Nur der Name des Werks hat sich geändert. Heute heißt es „Herwig Bohrtechnik“. Die deutsche Wörter für die Werkzeuge, die der Junge herstellen oder bearbeiten sollte, lernte er stets auf grobe Weise. Als er nicht wusste, was das Wort „Hammer“ bedeutet, schlug ihm sein Vorgesetzter mit einem Hammer in den Rücken. „Hammer“, murmelt Lew Kolosow vor sich hin. Man spürt förmlich, wie sich dieses Wort in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Er kennt noch eine ganze Reihe deutscher Worte.
Hunger herrschte, so erzählt Lew Kolossow, „eigentlich ständig“. Pro Woche bekam ein Arbeiter genau ein Brot, was man sich für die sieben Tage gut einteilen musste. „Man musste (…) die Kraft und den Willen haben, es nicht mit einem Mal aufzuessen“. Am Morgen erhielt ein Arbeiter einen Krug mit heißer Flüssigkeit“, hier grinst Lew Kolossow, „genannt Kaffee. Das war ein sogenannter Kaffee-Ersatz, hergestellt aus verschiedenen Gräsern, Eicheln und sonst noch was.“ Der Junge hat auch Schnecken, Beeren und Pilze in den umliegenden Wäldern gesammelt. Auch Vögel wurden gefangen und gegessen.
Den Zusammenhalt im Lager beschreibt Lew als gut. Selbst sein Hobby, das Lew schon als Schüler vor der Verschleppung betrieben hatte, das Briefmarkensammeln, kann er dank Geschenken von Freunden im Lager weiterbetreiben. So wenig es zu Essen gab, so viel die Zwangsarbeiter wegen Nichtigkeiten von den Vorgesetzten geschlagen und verprügelt wurden („bis mir das Blut aus Ohren, Nase und Mund kam“, so Lew Kolossow), so viele Briefe trudelten aus aller Herren Länder im Lager ein. Und die Briefmarken gaben viele dem kleinen Lew. Die Marken aus der Lagerzeit (einige gingen auch in den Wirren der Kriegszeit wieder verloren) bildeten den Grundstock für die umfangreiche Sammlung des späteren Philatelisten. Rückblickend meint Lew Kolossow über das Jahr im Lager: „Die Marken halfen mir, dieses Leben besser zu ertragen“. Fast ein Jahr hat Lew Kolossow im Deutschen Reich als Zwangsarbeiter geschuftet.
Im Jahr 2004 reist Lew Leonidowitsch Kolossow zum ersten Mal seit sechzig Jahren nach Thüringen. Seine Frau und seine Enkeltochter begleiten ihn. Er besucht die Werkzeugfabrik. Er erinnert sich an jedes Detail, führt durch die Halle. Er kann genau zeigen, an welchem Platz er damals gearbeitet hat. Herr Kolossow hat dem gegenwärtigen Fabrikleiter sowie dem Bürgermeister von Schmalkalden dann auch seine Erinnerungstücke gezeigt: Zum Beispiel den Aufnäher, auf dem „Ost“ stand, den er immer an seiner Kleidung tragen musste. Später besucht er in Schmalkalden noch das Denkmal für die 61 beigesetzten sowjetischen Zwangsarbeiter, darunter fünf Kinder.
Die Wiedereingliederung in die sowjetische Gesellschaft gestaltete sich schwierig für Kolossow. Zwangsarbeiter, die im Deutschen Reich tätig gewesen waren, „galten als Verräter und Kollaborateure“, so Dieter Boßmann von der Heinrich-Böll-Stiftung, die diese erste Reise nach Schmalkalden organisiert und finanziert hat (insgesamt war Lew Kolossow viermal in Schmalkalden; unter anderem hat er an lokalen Projekten mit Schülern über Zwangsarbeit teilgenommen). Viele ehemalige Zwangsarbeiter seien in der Sowjetunion gleich wieder in Lager gesperrt worden. Lew Kolossow durfte lange Zeit nicht studieren. Doch er wehrte sich: Er schrieb an Nikita Chruschtschow persönlich und bat um eine Ausreiseerlaubnis nach Polen, da er in der Sowjetunion nicht studieren dürfe. Nun wurde ihm doch noch ein Studienplatz bereitgestellt – er konnte die Fächer Ingenieurswesen und Energetik belegen. Später wird er als Ingenieur an der Akademie der Wissenschaften arbeiten. Seiner Frau hat er erst 1986 von seiner Zeit als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich erzählt. Erst in den Neunzigerjahren durfte er öffentlich erzählen, dass er im Deutschen Reich gearbeitet hat. Und einen weiteren späten Trost gibt es vielleicht für Lew Leonidowitsch Kolossow: Seine Enkelin hat ihre Diplomarbeit über belarussische Zwangsarbeiter im Deutschen Reich geschrieben und sich stark an seiner Geschichte orientiert, sie aufgearbeitet. Dafür ist Herr Kolossow ihr sehr dankbar.
Als ich ihn frage, wie er über das heutige Deutschland denkt, ob es ihn nicht irritiert und wütend macht, wie gut es den meisten Deutschen heutzutage geht, hingegen die Menschen in Belarus – einem Opferland des Zweiten Weltkriegs – doch in jeder Hinsicht, materiell wie hinsichtlich von freiheitlichen Grundwerten, schlechter da stehen, schüttelt er den Kopf. Nein, er hegt keinen Groll gegen die Deutschen. Nicht gegen die Deutschen an sich und schon gar nicht gegen die jetzt lebenden Deutschen. „Das ist ein anderes Deutschland, andere Leute“. Er erzählt von einem Buchhändler in Schleswig- Holstein, der ihn als Zeitzeuge zu einer Veranstaltung eingeladen und „sehr gut behandelt“ hat. Und Frau Merkel sei seiner Meinung nach eine gute Politikerin. Ich schaue skeptisch. Aber Herr Kolossow sieht mich mit dem ihm eigenen sehr bestimmten Gesichtsausdruck an. „Sie ist gut für die Deutschen“. Ich schweige. Und: „Die Deutschen sind mit sich selber ins Gericht gegangen, dort hat es eine kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit gegeben. Das kann man nicht von vielen Ländern behaupten.“
Von der Stiftung EVZ hat Lew Kolossow einmal Geld erhalten. Für einen belarussischen Pensionär mag es viel Geld sein, als Deutsche ist man nur beschämt, wenn man die Höhe der Summe hört: 700 Deutsche Mark (ungefähr 350 Euro). Aber die ehemaligen Zwangsarbeiter seien mit dieser Auszahlung zufrieden, meint Vera Dziadok vom Goethe-Institut Minsk. Denn im Vergleich zu dem weißrussischen Staat sei der deutsche Staat „großzügig“: „Eine einmalige Entschädigung für die Opfer der Repressalien der Dreißigerjahre, durch belarussische Behörden ausgezahlt, betrug eine Summe, die gerade mal für eine Flasche Wodka ausreichte.“
Das Gespräch scheint Herrn Kolossow erfrischt und nicht ermüdet zu haben. Der Händedruck des Zweiundachtzigjährigen ist nun noch fester, er federt hinaus.
Am Abend findet meine Lesung im Goethe-Institut statt. Die deutschenfreundliche Haltung, die Herr Kolossow trotz seines schweren Schicksals aufbringen konnte, weiß ein Gast hier noch zu übertreffen. Er äußerst sich jedoch nicht lobend über das heutige Deutschland, sondern zu meiner Überraschung über das Dritte Reich. „Natürlich mussten die Deutschen kämpfen. Wollten sie denn von den Russen überrannt werden? Grausamkeit gehört zu jedem Krieg dazu! Die Russen waren noch schlimmer als die Deutschen“. Er monologisiert, ein Gespräch mit ihm ist nicht möglich. Andere Gäste schalten sich ein. Aber der Herr redet sich in Rage, Hitler erscheint bei ihm wie ein netter „hart-aber-herzlich“-Typ, ein guter Kerl, der die Ärmel hochgekrempelt hat. Je länger der bullige Mann redet, desto verwirrter wirkt er. Plötzlich erzählt er, dass er in Afghanistan gekämpft hat. Jetzt redet er über sich selbst und nicht mehr in absurden Wortphrasen. Er ist, erfahren alle Anwesenden, sehr einsam, lebt unter ärmlichen Verhältnissen in einer Hütte im Wald.
In Minsk steht in der Innenstadt ein großes Denkmal, das an die gefallenen Afghanistan-Kämpfer erinnert. Ich schaue es mir am nächsten Morgen an. Zuvor habe ich noch erfahren, dass besonders viele Weißrussen ins ferne Afghanistan geschickt wurden. Die Begründung war: sie würden sich aufgrund der großen kulturellen und geographischen Distanz den Afghanen weniger nahe fühlen als andere Ostblockbürger und weniger Probleme haben, dort zu kämpfen und zu töten. Das 1996 erbaute Denkmal ist riesig und in realsozialistischer Manier gestaltet. Es enthält keinen impliziten Kommentar zu diesem Krieg (es sei denn, er hat sich mir verschlossen), außer dem, die gefallenen Helden zu ehren. Die Namen von 771 gefallenen Soldaten sind dort in Stein gemeißelt. Männer ziehen mit entschlossenen Gesichtern in den Krieg, Frauen halten klagend Babys empor. Das Denkmal ist von innen begehbar, die Architektur setzt auf Pathos und Überwältigung. Was bei mir zurückbleibt, ist Beklemmung.
Später werde ich noch gemeinsam mit Vera Dziadok das Denkmal für die ermordeten Juden suchen. Der kleine Obelisk im ehemaligen jüdischen Ghetto liegt auf einer Anhöhe zwischen Hochhäusern und Tannen versteckt. Man muss schon wissen, wo man ihn zu finden hat. Diese Ignoranz ist allerdings keine spezifisch belarussische. Ähnliche Erlebnisse hatte ich in Warschau, Vilnius und Kiew. Was man in Minsk bis heute nicht finden kann, ist ein Denkmal, das an die zahllosen Opfer des stalinistischen Terrors erinnert.
Nachmittags leite ich eine Schreibwerkstatt für belarussische Jugendliche. Manche sind hierfür von außerhalb von Minsk angereist. Ich werde von Vera Dziadok, einer Mitarbeiterin des Goethe-Instituts, begleitet, die ganz hervorragende Übersetzungsarbeit für mich leistet. Ich stelle den Jugendlichen Aufgaben zum Schreiben, und sie schreiben sofort los. Falls man unterstellen würde, dass das Leben in einer Diktatur die Phantasie hemmt, hätte man sich hier vom Gegenteil überzeugen können. Ich habe noch nie erlebt, dass junge Menschen in so kurzer Zeit komplexe und tiefgründige Texte verfassen können. Die Themen unterscheiden sich auch nicht wesentlich von den Fragestellungen der Jugendlichen, die ich in Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder in den Vereinigten Staaten unterrichtet habe. Was mir auffällt, ist, dass die belarussischen Jugendlichen mich respektvoller behandeln.
Am nächsten Tag habe ich noch ein besonderes Erlebnis in Minsk – eines, das mich die bisweilen düsteren Erlebnisse der Vortage vergessen lässt. Ich darf die Schokoladenfabrik „Kommunarka“ (Genossin) besuchen. Sie existiert seit über 100 Jahren in Minsk und ist sehr groß. Hauptsächlich Frauen arbeiten hier, auch die Chefetage ist mit einer Doppelführungsspitze weiblich besetzt. Auf High Heels empfängt die Vize-Direktorin – Frau Tatjana Ssajganowa – uns drei – Vera Dziadok, Katarina Kopric (die Frau des Goethe-Institutsleiters Frank Baumann) und mich – und führt uns in ihr pralinenbewehrtes Büro. Sie ist sehr stark, beinahe exotisch, geschminkt und hat pechschwarze knisternde Haare. Die Farben ihres Kostüms passen sich hervorragend den vielen schönen Verpackungen der Pralinenkästen an, die in Glaskästen und auf dem großen Cheftisch zu bewundern sind – kaum hat eine Chefin jemals ihre Produkte überzeugender präsentiert und repräsentiert als sie. Eines betrübt Tatjana Ssajganowa jedoch sehr: Der Export in die Ukraine – immerhin macht er 20 Prozent des Umsatzes von Kommunarka aus – ist stark eingebrochen. Man verfolge die Situation in dem instabilen Nachbarland mit Argusaugen. Dabei rollt sie mit den glitzernd umrandeten Augen, so dass man keinen Zweifel daran hat, dass ihr wirklich nichts entgeht. Einen weiteren Kommentar zu Situation in der Ukraine erlaubt sie sich uns gegenüber jedoch nicht. Überhaupt höre ich in den Tagen in Minsk nur wenige vorsichtige Äußerungen über das Nachbarland. Zwei Haltungen schienen vorzuherrschen: „Die vom Maidan hatten Mut, das würden wir uns hier nicht trauen“ – und: „Zum Glück passiert so etwas bei uns nicht – hier bleibt es ruhig und stabil!“.
Nach der ersten Verkostung im Bürozimmer – wir durften noch Nachbauten von Sportpalästen und dem KGB-Gebäude aus Schokolade bewundern – müssen wir alle merkwürdige hauchdünne Mäntelchen überziehen, für unsere Schuhe gibt es auch Plastikhäubchen – wegen der Hygiene. Denn jetzt geht es in die Hallen, in denen die Schokolade produziert wird. Unsere Chefin stöckelt entschlossen voran durch die – hochmodernen – Fabrikhallen. Es riecht teuflisch gut nach Schokolade. Stolz werden uns die Maschinen zum Conchieren gezeigt: „Deutsche und österreichische Fabrikate!“
Wir dürfen überall direkt vom Fließband kosten. Belarussinen in den gleichen weißen Mäntelchen strahlen uns breit an. Sie haben sicher auch einen hohen Endorphinspiegel. Am Ende hätte ich fast einen Zuckerschock erlitten.
Zurück im Hotel warnt man mich. Geh bloß am Abend nicht allein an die Bar! Nein, das habe ich auch nicht vor. Mich hatte die stilisierte Figur eine Tabledancerin über dem Eingang schon abgeschreckt. Aber was wäre denn nun derart schlimm daran?, wage ich doch zu fragen: Denn ich beobachte einfach gern Menschen, besonders auf Reisen. Alkohol ist gar nicht mein Ding – ich bin eher ein Schokoholic. Wie man schon bemerkt haben dürfte. Die Antwort, die mir die freundliche Kollegin vom Goethe-Institut gibt, ist: „Beobachten?! Das kannst Du hier vergessen. Alles – ALLES, was zwei Beine und zwei Arme hat – wird hier abgeschleppt. Selbst dein Kollege“ – nun wird ein männlicher Name genannt – „hat das schon am eigenen Leib erfahren müssen!“ Bei dieser Antwort erinnere ich mich an ähnlich aussehende Bars in anderen osteuropäischen Ländern. Hier wurden die gemeinhin in „westlichen“ Bars geltenden, mehr auf verbalen als gleich auf taktilen Kontakt setzenden Anbandel-Rituale stets schnurstracks übersprungen – überflüssiger Tand. Man musste schon sehr deutlich werden, um seine Heiße Schokolade (wenigstens diese Getränkewahl wirkte meist verstörend) noch in Ruhe – allein – austrinken zu können. Mir fällt eine Kneipennacht in Tiraspol – Transnistrien – wieder ein, in der alle um mich herum sturzbetrunken waren, nur ich fühlte mich lediglich sanft überzuckert und fand ohne Hilfe mein Zimmer wieder. Gehorsam gehe ich gleich ins Bett. Schließlich muss ich morgen früh aufstehen, es geht zurück nach Berlin-Schönefeld.
Schon bin ich wieder an dem Spielzeugflughafen bei Minsk. Ich bin in heiterer Verfassung als bei meiner Ankunft. Es ist Sonntag, aber es gibt wieder kaum Gäste. Das Personal ist sehr freundlich, man hat ja nicht viel zu tun und Zeit für den einen oder anderen Plausch. Und schon werden die Seen, Sümpfe und Wälder unter mir kleiner und kleiner. Ich werde wehmütig, möchte wiederkommen. Es gibt noch so viel zu entdecken in diesem Land. Zwei Stunden später habe ich in Berlin am Kudamm eine Verabredung und gönne mir im berühmten Café Kranzler ein paar Pralinen. Ganz so gut wie die belarussischen sind sie nicht.
© Tanja Dückers, März – April 2015