veröffentlicht in Kulturaustausch, Zeitschrift für internationale Perspektiven, Nr. 3 / 2012
Unsere Gesellschaft ist vom Dogma der Transparenz beherrscht. Was zunächst demokratisch erscheint, durchdringt auch Lebensbereiche, die Privatheit und Intimität brauchen
Mit „Transparenzgesellschaft“ hat Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, ein zutiefst melancholisches, kulturpessimistisches, fast antiaufklärerisches Buch geschrieben, das dennoch ein großer Wurf ist. Auch wenn man ihm in einigen Positionen nicht zustimmt, ist man gezwungen, weiterzulesen, weil seine luzide Sprache einen solchen Lesesog erzeugt. Byung-Chul Hans zentrale These lautet: Die heutige Gesellschaft ist vom Dogma der Transparenz beherrscht. Was sich zunächst als demokratisches Mittel der Offenlegung geriert, infiltriert auch all diejenigen Lebensbereiche, denen Privatheit, Intimität und Distanz zu eigen sein müssten. Die Welt wird nach Ansicht Hans nicht nur heller, sondern auch „schamlos und nackter“. Unsere Gesellschaft hat – perspektivisch – mit einer Stammesgesellschaft mehr gemein, als wir annehmen würden: Jeder weiß über jeden Bescheid. Vertrauen als emotionale Vorschussleistung wird immer seltener, da es keinen (opaken) Raum mehr für Annahmen, Hoffnungen, überhaupt für Vages gibt. Aber nur das Vage, nicht vollständig Bekannte kann echtes Vertrauen – eine Glaubensfrage und keine Wissenssache – ermöglichen. Das hat für den psychischen Zustand einer Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Anstelle von Vertrauen setzt die Transparenzgesellschaft auf Information und Kontrolle. „Die Transparenzgesellschaft bringt es mit sich, dass ein Ereignis sich blitzschnell ausbreitet. So kann sie jemanden im Nu ins Verderben stürzen“, warnt Han. Die Kont-rollgesellschaft vollendet sich dort, „wo ihr Subjekt sich nicht aus äußerem Zwang, sondern aus selbst generiertem Bedürfnis heraus entblößt“. Wie die Politikerin der Piratenpartei, die in einem Interview äußerte, die Privatsphäre sei an sich längst eine obsolete Angelegenheit – ihr mache es Spaß, im Stundentakt hinaus in die Welt zu twittern, was sie gerade so treibe. Nach Han wird die Transparenz in unserer Gesellschaft fetischisiert und verabsolutiert. Die Piratenpartei als erste Partei „ohne Farbe“ (ohne Standpunkt und Ideologie) sei ein Paradebeispiel hierfür. Doch: Ist Transparenz immer so schlimm, wie Han meint?
Das kulturpessimistische Ressentiment gegen die „heutige Zeit“ wirkt manchmal penetrant. Insbesondere als jüngerer Leser möchte man intervenieren: Früher war nicht alles besser, auch wenn es zweifellos mehr Geheimnisse, Verbote und „dunkle Zonen“ gab. Zudem irritiert, dass Han den positiven Aspekten der Transparenz so wenig Tribut zollt. Schließlich ist die Forderung nach Transparenz in vielen Zweigen der Wirtschaft und Politik als enormer Fortschritt zu werten. Wundern kann man sich auch über die positive Besetzung des Begriffes der Macht: „Die Transparenz ist ein Zustand der Symmetrie. So ist die Transparenzgesellschaft bestrebt, alle asymmetrischen Beziehungen zu beseitigen. Zu ihnen gehört auch die Macht. Die Macht an sich ist nicht diabolisch. Sie ist in vielen Fällen produktiv und hervorbringend. Sie generiert Frei- und Spielraum zur politischen Gestaltung der Gesellschaft“, schreibt Han. Den Theorien vieler Politik- und Sozialwissenschaftler steht er damit diametral entgegen. Zahlreiche Sozialstudien haben in den letzten Jahren das Gegenteil belegt: Je ungleicher die Machtverteilung in einem Land, desto unglücklicher ein Volk. Egalität und Partizipation scheinen der Garant für produktive politische Handlungsspielräume zu sein. Han spricht jedoch von der Transparenzgesellschaft „als Hölle des Gleichen“. Das Elitäre, das Abgegrenzte und Distinguierte ist ihm lieb – und wenn man an Billigflieger und Ballermann denkt, mag man ihm vielleicht zustimmen. Die Frage ist bloß, ob die ungerechtere, intransparentere Gesellschaft die bessere (wenngleich sicher die stilvollere) gewesen ist.
Recht hat Han wiederum, wenn er schreibt, dass die Macht zur Erschaffung von Lust dazugehört: „Die libidinöse Ökonomie folgt einer machtökonomischen Logik.“ Foucault ging noch einen Schritt weiter, indem er die Lust als Grund für die Machtinszenierung an sich ausgab. An dieser Stelle räumt Han ein, dass die Hermetik des Geheimnisses – dazu zählt er auch das Machtvolle und Diabolische – eine Kulturtechnik sei und dass ihre Abschaffung einen Kulturverlust mit sich brächte. Metaphern, Symbole, Referenzen: Sie verweisen alle auf Brüche, Dualitäten und Distanznahmen. Für eine vollkommen transparente Kommunikation, die auf reine Informationsvermittlung abzielt, sind sie nicht mehr konstitutiv. Die glasklare Info-Kommunikation vermeide, so Han, das feine Oszillieren zwischen Aussage und Sprache, zwischen Inhalt und Form. Doch was für die Sprache und Kommunikation zutreffen mag, lässt sich nicht auf alle Lebensbereiche übertragen. Transparenz ist, wie schon am Beispiel Politik aufgeführt, nicht überall „schädlich“. Und nicht immer kann „Kultur“ als Synonym für „gut und richtig“ fungieren. Insbesondere Hans Vorstellung von heutigen Pornos wirkt altbacken: Nach Han habe der Körper bei einem Porno kein Geheimnis mehr und würde nur ausgestellt. Er beruft sich auf Walter Benjamin, der meinte, Erotik könne nur aus der intrinsischen Beziehung von Verhüllung und Aufdeckung bestehen. Es folgt ein Lob auf die Hülle. Das reizt zum Widerspruch: Genügt der Körper, qua Geburt hüllenlos, nicht für die Erweckung erotischer Impulse? Doch, tut er. Hans persönliche Vorliebe scheint der sehr kultivierten Erotik zu gelten, wogegen nichts einzuwenden ist – jedoch gegen den absolutistischen Anspruch, mit dem hier über die erotischen Vorlieben und auch das Körperempfinden anderer Menschen geurteilt wird. Han wirft dem heutigen Porno vor, keine Ambivalenz und keinen Bruch zu kennen, sondern ganz in der „Ausstellung“ aufzugehen. Über die ausgestellten Körper schreibt er: „Sie sind glatt, transparent und weisen keine Brüche, keine Ambiguität auf. Risse und innere Gebrochenheit zeichnen aber das Erotische aus.“ Diese Vorstellung ist jedoch ein Rückschritt gegenüber Andy Warhol und der Pop Art, auch gegenüber den Minimal Artists – Künstlern, die der in der Moderne belächelten puren, perfekten Oberfläche ihre Würde zurückgaben.
Er unterschätzt zudem den gegenwärtigen Porno, der durchaus mit ambivalenten Gefühlen spielt und sich nicht nur auf die schlichte Ausstellung von Körperlichkeit beschränkt. Viele Filme und Romane sind längst an der Schnittstelle zwischen Porno und Nicht-Porno angesiedelt. Gar nicht folgen kann man Han, wenn er das Überflüssige an sich zum Obszönen erklärt. „Obszön sind die Bewegungen des Körpers, die überzählig und überschüssig sind.“ Die reine ziel- und zwecklose Bewegung wird bei ihm zum Obszönen erklärt. Das verlangt Widerspruch: Das Erotische ist nämlich im biologistischen Sinne das Überflüssige, das Beiwerk, das Nicht-Zielgerichtete, das Mehr-als-lediglich-Sexuelle. Han will jedoch die Beschleunigung mit dem Obszönen verkoppeln und man merkt: Der Begriff „obszön“ wird bei ihm zum Sammeladjektiv für alles Unerwünschte, nicht Statthafte. Han ist dann gut, wenn er konkret wird, wenn er sich mit der gegenwärtigen (Facebook-)Gesellschaft auseinandersetzt. Seine knappen luziden Beispiele überzeugen sofort. Wenn er allgemein über das Wesen des Erotischen oder Obszönen orakelt, wird es geschmäcklerisch und oft auch schlicht abwegig.
Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz, 2012, 91 Seiten, 10 Euro
© Tanja Dückers, Mai 2012