ZEIT Online, 2. März 2009
Deutschland sorgt sich um seine vermeintliche Schlüsselindustrie. Doch eine Gesellschaft, die auf herkömmliche Technologien setzt, hat in der Zukunft verloren
Das Auto ist das liebste Kind der Deutschen. Kein Produkt wird gleichermaßen umworben, da es für alles steht, was uns gut und teuer ist: Status, Spaß und Erfolg. Kein Wunder also, dass die Automobilindustrie hierzulande als Schlüsselbranche gilt, von der Millionen Arbeitsplätze abhängen. Und es überrascht nicht, wenn die aktuellen Probleme dieser Branche als eine Art nationaler Notstand wahrgenommen werden: Kurzarbeit bei Daimler und Volkswagen, Opel vor der Insolvenz.
Die Sorge um Tausende Arbeitsplätze ist verständlich, ebenso wie die Frage, ob ein paar Milliarden Euro Staatshilfe für ihre Rettung nicht angemessen sind. Schließlich ist die Bundesregierung auch bereit, wesentlich größere Beträge für marode Banken vorzuschießen. Und ist es nicht wichtiger, die Schlüsselbranche des Landes zu retten, als Spekulationsverluste aufzufangen?
Doch die Debatte geht an der wesentlichen Frage vorbei. Das eigentliche Problem heißt nicht Opel, Daimler oder Volkswagen. Wer heute die Autoindustrie rettet, schiebt gleichzeitig ein viel grundlegenderes Problem auf. Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer und sind in dem Wirtschaftsmodell der Nachkriegszeit zu suchen, das nicht zufällig nach einem Autohersteller benannt wurde. Der Fordismus – der Begriff entstand nach dem ersten Weltkrieg und leitet sich ab vom Namen des legendären Unternehmers Henry Ford – verband die Massenproduktion mit dem massenhaften Konsum.
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Die Rechnung war so einfach wie effizient: Durch das Fließband wurde die Arbeit eintöniger, die Fahrzeuge billiger und die Löhne höher. Die Methode wurde in den vergangenen Jahrzehnten vielfach modifiziert, doch das Prinzip beibehalten. Vor allem die Mittelschicht profitierte davon, die in Deutschland ein regelrechtes Wirtschaftswunder erlebte.
Das System hat jedoch einen Fehler. Was in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg noch wunderbar funktionierte, gerät heute in eine fundamentale Krise. Denn seit geraumer Zeit steigt die Produktivität schneller als die Nachfrage, und für die Produktion werden immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Früher einmal bedeutete Massenproduktion: „von den Massen für die Massen produziert“ , heute steht sie für: „von Wenigen für die Massen produziert“.
Immer weniger produzieren immer mehr – diese Entwicklung wurde in den vergangenen Jahren noch zusätzlich verschärft, da die Reallöhne der Mittelschicht stagnierten, oder, wie in Deutschland, sogar zurückgingen. Da die Einkommen verschiedener gesellschaftlicher Segmente in Deutschland immer stärker auseinanderdrifteten, konnte ein kleiner Kreis von Reichen diesen Rückgang auch nicht mehr mit seinem Konsum kompensatorisch ausgleichen.
Da die reale Kaufkraft nicht mehr ausreichte, wurde die Nachfrage immer mehr über Kredite und Schulden finanziert. Damit dieses System weiter tragfähig bleibt, muss weiter produziert, konsumiert, verbraucht und entsorgt werden, selbst wenn wir es uns im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr leisten können. Die Autoindustrie ist der Prototyp dieses fordistischen Systems, hier wurde es zuerst eingeführt und erfolgreich etabliert.
Die Debatte über die Autokrise wird daher nur halbherzig geführt. Es geht nicht nur um neue Modelle, die kleiner und umweltfreundlicher sind. Vielmehr ist eine Krise des Fordismus und der mit ihm verbundenen Wirtschaftsweise zu verzeichnen. So verständlich es ist, jetzt Arbeitsplätze und Unternehmen retten zu wollen, so notwendig ist es auch, über solche konkreten Fragen und Entscheidungen hinaus in größerem sozioökonomischen Maßstab zu denken: Was kommt nach der Massenproduktion?
Der US-amerikanische Soziologe Richard Florida hat schon vor Jahren in Schriften wie Beyond Massproduction gewarnt: Die westlichen Industrienationen, die noch maßgeblich auf herkömmliche Technologien wie die der Automobilindustrie setzen, haben die Zukunft aus dem Blick verloren. Denn diese liege nicht mehr zuvörderst im „Hardware“-Sektor, sondern vielmehr in der Entwicklung neuer Ideen. Repetitive Hardware-Produktion ist inzwischen an vielen Orten auf der Welt kostengünstiger zu haben. Länder wie Deutschland oder die USA können ihren technologischen Vorsprung nur dann halten, wenn sie immer wieder neue Ideen entwickeln. Die Schlüsselbranche der Zukunft ist nach Florida für die alten Industrienationen die auf verschiedenste (ausgelagerte) Hardware-Bereiche bedarfsgerecht anwendbare, in sich dynamische Kreativwirtschaft.
Und was wäre derzeit kreativer, als sich Gedanken zu machen, wie eine Gesellschaft funktionieren kann, der langsam, aber sicher die fordistisch bestimmte Arbeit ausgeht? Eine Arbeitsweise, die sich wohlbemerkt selbst ad absurdum führt? Welche Schlüsselbranchen wollen und brauchen wir künftig? Wie und wo wollen wir produzieren? Und in welcher Relation zur Anzahl der Arbeitssuchenden? Neue Ansätze gibt es genug, wie beispielsweise die Debatte über das Grundeinkommen zeigt. Veränderungen, die grundsätzlicher sind als die Frage, ob Opel gerettet werden kann oder soll, stehen an. Schließlich ist es erst gut 30 Jahre her, dass die Schlüsselbranchen Deutschlands Kohle und Stahl hießen – heute ist die Kohleförderung ein höchst verlustreich gepäppelter Subventionsfall.
Vieles deutet aber darauf hin, dass von politischer Seite aus alle Anstrengungen unternommen werden, damit alles beim Alten bleibt. Wo hierzulande die Prioritäten liegen, sieht man unter anderem am aktuellen Konjunkturprogramm: Wer ein Kind in die Welt setzt, erhält eine einmalige Prämie von 100 Euro. Wer sein altes Auto verschrottet und ein neues kauft, bekommt 25 Mal so viel. Solange die vier Räder der Deutschen liebster Anhang sind, wird der überfällige Wandel nicht stattfinden.