Zu viel Sex und Tod? Eine kleine Novelle sorgt in Baden-Württemberg für Streit. Jedenfalls darf das Buch nun nicht mehr alleinige Prüfungslektüre in der 10. Klasse sein.
Dirk Kurbjuweits Novelle Zweier ohne handelt von einem elfjährigen Jungen, der einen Seelenverwandten sucht. Den findet Johann schließlich in Ludwig. Ludwig lebt in der Nähe einer Brücke, von der schon mehrfach Lebensmüde gesprungen sind. Er teilt seinen Schmerz darüber mit Johann. Die Freundschaft wird noch intensiver, als beide, nun Teenager, im Ruderboot Zweier ohne (das heißt ohne Steuermann) unterwegs sind. Die enge Freundschaft der Jungen wird auf eine harte Probe gestellt, als sich Johann in Ludwigs Schwester Vera verliebt. Die wiederum fühlt sich nicht nur zu Johann, sondern auch zu Flavia hingezogen.
Ein realistisches, ehrliches, gefühlvolles Buch. Das Kultusministerium in Baden-Württemberg hat es aus gutem Grund zur alleinigen Prüfungslektüre für Zehnte Klassen bestimmt. Bis christliche Kreise vehement Einspruch erhoben. Ist es anstößig, Sechzehnjährige einen Roman lesen zu lassen, in denen erotische Szenen und eine bedrückende Begegnung mit einem Selbstmörder vorkommen? Nein. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass die rot-grüne Regierung in Baden-Württemberg allen Anschein nach den Interventionen von christlichen Kreisen fromm gefolgt ist, die die Tauglichkeit des „Sexbuchs“ (davon spricht „Topic“, ein christlicher Nachrichtendienst) wegen seiner erotischen Passagen und der Störung der Totenruhe als schulische Pflichtlektüre in Abrede stellten.
In den letzten Jahren ist das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland zunehmend kritisch betrachtet worden. Es irritiert viele Bürger, in welchem Maß der Staat kirchliche Ämter, Einrichtungen und Besitztümer mitfinanziert. Jetzt haben christliche Bekenntnisschulen Einfluss auf die Pflichtlektüre in staatlichen Schulen genommen. Gut, Zweier ohne ist nicht vollständig aus dem Lehrplan gestrichen worden. Die Schulen sollen zwischen dieser Novelle und einem Klassiker wählen. Aber immerhin ist der Plan auf Druck einzelner christlicher Gruppen abgeändert worden.
Kein Vergleich zu Felix Krull oder Törleß
Im Übrigen strotzt der Roman nicht gerade von teuflischen Szenen: Auf 133 Seiten finden sich genau vier Seiten mit erotischen Szenen sowie zwei Seiten, in denen es um die Bergung einer Leiche geht. Wer meint, dass man Sechzehnjährigen die Beschreibung einer Liebesnacht oder die Begegnung mit einem gewaltsam erfolgten Tod vorenthalten muss, hat niemals Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann oder In der Strafkolonie von Franz Kafka gelesen.
Ganz zu schweigen von den Verwirrungen des Zöglings Törleß von Robert Musil. Der Törleß mit seinen homoerotischen und sadomasochistischen Anklängen war übrigens in Berlin (West) in den späten achtziger Jahren Pflichtlektüre in der gymnasialen Oberstufe. Die Mehrzahl der Jugendlichen hat heute auf Video darüber hinaus schon ganz andere Dinge gesehen. In Zweier ohne geht es dagegen vergleichsweise romantisch zu. Wer den Auftrag der Schulen ernst nimmt, darf die Themen Sex, Tod und auch Selbsttötung für bald volljährige Schüler nicht aus dem Unterricht ausklammern. Ernst nehmen heißt nämlich, mit Schülern und Schülerinnen offen über die Sujets zu reden, die sie beschäftigen.
Leider passt dieser Fall in die derzeitige bildungspolitische Stimmung in Baden-Württemberg: Gerade erst wurde bekannt, dass der zukünftige Bildungsplan Homosexualität und sexuelle Vielfalt generell fächerübergreifend als Thema vorsieht. Ein von diesem grundhumanen Ansatz überforderter Lehrer hat daraufhin empört eine Onlinepetition gegen die Reform gestartet und rund 170.000 Unterzeichner hierfür gewonnen, von denen sich offenbar niemand vorstellen konnte, dass auch sein Kind betroffen sein könnte. Zum Glück ist die baden-württembergische Landesregierung hier nicht eingeknickt. Schließlich ist die Einführung der Homoehe ein wichtiges politisches Flaggschiff von Rot-Grün gewesen.