veröffentlicht auf ZEIT Online, November 2015
Spätgebärende – Stempel im Mutterpass
In Deutschland werden mittlerweile vier Fünftel der Schwangerschaften als „Risikoschwangerschaft“ eingestuft. Über das verhängnisvolle Klischee der perfekten Geburt.
Im Zuge der Panik um die demographische Entwicklung Deutschlands gerät eine Gruppe immer wieder ins Visier von Politik und Medien: die Spätgebärenden. Meist wird nichts Freundliches über sie gesagt. Die „späten“ Mütter (über „späte Väter“ redet niemand) rangieren in der öffentlichen Meinung kurz hinter den „egoistischen“ Kinderlosen . Denn auch sie, heißt es oft, verfolgen viel zu lange angeblich nur ihre Karriere oder wollen
nur Spaß ohne Ende haben. Tatsache ist: Den Kindern von Spätgebärenden geht es nicht schlechter als anderem Nachwuchs, und für die Mütter ist ihr Erstgebärenden-Alter oft genau das Richtige.
Die Pathologisierung fängt schon beim Frauenarzt an: Jede Frau in Deutschland, die über 35 Jahre alt ist, wird automatisch als „Risikoschwangere“ eingestuft. In den Niederlanden oder Skandinavien ist man weitaus weniger schnell mit diesem Label zur Hand, dennoch gibt es dort auch nicht mehr Geburtskomplikationen als hier. Das Ziel – eine gesunde Mutter und eine gesundes Baby – wird auch ohne Risikokatalog erreicht: In Deutschland wie auch in den skandinavischen Ländern sind 97 Prozent der Babys bei Geburt gesund.
Natürlich trifft der Vorsorgewahn nicht nur die Spätgebärenden: Kaum zu fassen, aber
in Deutschland wird nur noch jede fünfte Schwangere nicht als Risikoschwangere eingestuft. Das liegt daran, dass in den vergangenen Jahren der Katalog für Kriterien der Risikoschwangerschaft von 17 auf 52 Kriterien erhöht wurde. Übergewicht, Bluthochdruck, Heuschnupfen, auch seelische Probleme sind Risikokriterien. Obwohl viele Frauen mit 35 topgesund sind, bekommen sie den Stempel in den Mutterpass.
Fremdbestimmte Mütter
Sicher: Was die Fertilität und Gefahr von Fehlentwicklungen angeht, verändert sich
der weibliche – und auch der mänliche – Organismus mit zunehmendem Alter. Die Möglichkeit, noch ein (gesundes) Kind zu zeugen, variiert jedoch individuell sehr stark. In Kinderwunschpraxen sitzen Endzwanziger, bei denen sich der ersehnte Nachwuchs seit Jahren nicht einstellt. Manche Mittvierzigerin bekommt ohne Schwierigkeiten ihr erstes, zweites oder drittes Kind. Die Altersangabe 35 ist also fiktiv. Dennoch wird dieses Alter von Ärzten als „magische Grenze“ dämonisiert.
Gleichzeitig wird den älteren Schwangeren oft das Gefühl vermittelt, für Kinder schlecht vorbereitet zu sein. Die bekannte Medizin-Psychologin Dr. Beate Schultz-Zehden sagte
in einem Gespräch mit n-tv.de : „Erstgebärende um die vierzig sind zum ersten Mal mit dem Thema Fremdbestimmung konfrontiert. Bis dahin konnten diese Frauen ihr Leben
frei gestalten und müssen sich nun mit einem Kind komplett umstellen. Je länger eine
Frau diese Freiheit genossen hat, umso schwerer ist es für sie, sich nach der Geburt eines Kindes vollständig darauf einzulassen.“ Es ist erstaunlich, dass in einer durchkapitalisierten neoliberalen Arbeitswelt wie der heutigen eine Frau angeblich erst mit 40 zum ersten Mal „fremdbestimmt“ sein soll. Viele Mütter geben zu Protokoll, dass der Aufwand, ein Baby zu pflegen, nichts gegen den Stress in ihrer letzten Firma gewesen sei, wo Endlos- Konferenzen und ständige Dienstreisen die letzte Freizeit raubten. Und das Baby liebt man wenigstens.
Mütter, deren Lebensumstände erst spät erlauben, ein Kind großzuziehen, werden einfach nicht ernst genommen: „Meines Erachtens gaukeln diese Frauen sich selbst und anderen etwas vor. Die Argumentation scheint so ein bisschen aus der Erklärungsnot für die späte Entscheidung entstanden zu sein. Quasi wie eine Entschuldigung so lange mit der Entscheidung gewartet zu haben, bis alles perfekt passt, wie der passende Partner oder die berufliche Karriere,“ so die allwissende Medizin-Psychologin. Für Schultz-Zehden sind Spätgebärende auch deshalb „egoistisch und wenig verantwortungsvoll, weil sie nicht an die Zukunft des Kindes denken“. Das Kind könnte ja später sagen: Eine alte Mutter will ich nicht.
Aber Kinder wünschen sich auch keinen alten Vater, keinen Workaholic, keine Jetset- Mama, keine depressive Mutter, keine geschiedenen, keine lieblosen Eltern – man wünscht sich viele Dinge nicht. Hinter der rigorosen Ablehnung von später Mutterschaft steckt
die biedermeierliche Sehnsucht nach der vermeintlich perfekten Familie. Das „richtige“ Alter wird zum Statussymbol, zu einem sozialen Gut. Historisch betrachtet gab es bisher pragmatische Gründe für diese Familienordnung, aber die Zeiten haben sich längst geändert. Wir werden immer älter, und mit dem Älterwerden der Menschen wachsen auch die Lebensentwürfe mit.
Gesetzliche Ungleichbehandlung
Und nun noch das technikfeindliche Argument gegen späte Mutterschaft, weil diese nicht selten medizinische Eingriffe voraussetzt. Wer das gelten lässt, darf sich auch kein künstliches Hüftgelenk und keinen Herzschrittmacher einsetzen lassen. Und mit dem Flugzeug fliegen und im Netz herumsurfen eigentlich auch nicht. Die absurdesten Schönheits-OPs sind in manchen Kreisen inzwischen völlig normal – ein Kind jenseits des mustergültigen Alters zu gebären darf nicht normal sein?
Hinter all diesen Vorstellungen verbergen sich auch Geschlechterstereotypen und Geschlechternormen. Nie ist von den ewig junggebliebenen Vätern, die oft genug
die Erstgeburt ihrer Partnerin hinauszögern, die Rede. Keiner stört sich an Vätern
im fortgeschrittenen Alter wie Picasso oder Sky Dumont. Im Gegenteil, oft klingt Bewunderung für die virilen Alten in den Kommentaren an. Bis in die Gesetzgebung herrschen hier Ungleichbehandlungen, wie der Gynäkologe einer 64jährigen Mutter aus Aschaffenburg bemerkt hat : „Bei uns gibt es ein Paradox: Warum soll das Spenden von Samen erlaubt sein, das von Eizellen aber nicht?“
Um nun einmal die Sache umzudrehen, sollen jetzt zur Abwechslung die Vorteile genannt werden, die das späte Gebären mit sich bringt. Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass die Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern oft besser ist als die zwischen Kindern und Eltern. Ältere Menschen, die sich schon selbst verwirklichen konnten, sind oft eher bereit, zurückzustecken und einem Kind ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen, als diejenigen, die in der „Rushhour des Lebens“ zwischen dem 25. und dem 40. Lebensjahr stecken.
Das Max-Planck-Institut für Demographische Forschung in Rostock hat außerdem herausgefunden, dass es nicht stimmt, dass Kinder von Spätgebärenden häufiger krank seien, wie früher behauptet wurde, sondern eher das Gegenteil zutrifft : „Fuü das Erwachsenenalter der Kinder scheinen frühe Geburten bedenklicher zu sein
als späte“, sagte Mikko Myrskylä, Leiter der Forschungsgruppe „Dynamik des Lebensverlaufes und Demografischer Wandel“, nach der Auswertung der Daten von 18.000 Müttern. Entscheidend für die spätere Gesundheit der Kinder sei vor allem der Bildungsgrad der Mutter. „Der Bildungsstand der Mutter hat direkte Auswirkungen auf ihr Gesundheitsbewusstsein, etwa in Bezug auf Rauchen, körperliche Bewegung und Alkoholkonsum.“
Ältere Mütter verfügen in der Regel über mehr sozialökonomische Ressourcen und können mehr Zeit in ihre Bildung investieren. Dadurch sind sie oft besser in der Lage, ihrem Kind zu einer Schul- und Berufsqualifikation zu verhelfen, was sich wiederum positiv auf das Gesundheitsbewusstsein des erwachsenen Kindes auswirkt. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Kinder sehr junger Mütter besser dran wären, wenn ihre Mütter ein paar Jahre länger gewartet hätten“, sagt der Forscher. Allerdings lasse sich daraus natürlich keine genaue Altersangabe ableiten, was zu jung und was zu alt sei, dazu seien individuelle Faktoren zu bedeutsam. Eine Internetnutzerin aus einem Forum zum Thema Spätgebärende hat einen ebenso einfachen wie plausiblen Vorschlag: „Wann eine Frau ein Kind bekommt, sollte doch am besten jede selbst entscheiden.“
© Tanja Dückers, Berlin, im November 2015