veröffentlicht auf ZEIT Online, Dezember 2012
Warum sind also ausgerechnet Computerspiele für viele die Inkarnation des Bösen auf Erden geworden? Das „gute Buch“ setzt eine mindestens genauso hohe Abstraktionsfähigkeit voraus wie ein Computerspiel und ist auch keine besonders sinnliche Erfahrung, sofern man nicht beim Rascheln der Seiten in Ekstase gerät. Menschheitsgeschichtlich betrachtet existiert es erst seit einem Wimpernschlag. 99,9 Prozent aller jemals geborenen Kinder haben nie ein Buch in den Händen gehalten.
Vergessen wird in der aufgeregten Debatte auch, dass die Langspielplatte, die Hörspielkassette und das Radio vor nicht allzu langer Zeit selbst „neue Medien“ waren. Und schließlich: Viele der Computerspiele für Kinder sind sogar pädagogisch ausgetüftelt: Kleine Kinder lernen Tier- und Pflanzennamen auf dem Bildschirm oder lernen Farben und Formen, indem sie Bauklötze einander zuweisen. Für alle Altersstufen ist „etwas Gutes“ dabei.
Förderlich oder wertlos?
Trotzdem herrscht eine seltsame Übereinstimmung darin, dass man Kinder und Jugendliche von neuen Medien möglichst fernhalten sollte – manche Eltern und Pädagogen appellieren an die Vernunft der Kleinen, andere für Grenzen und Strafen.
Die Ursache ist Angst und Verunsicherung. Eltern und einige führende Pädagogen verdammen, was ihnen nicht vertraut ist. Denn sie müssen sich mit einem gewissen Autoritätsverlust abfinden, da die Sprösslinge ihnen schon als Grundschüler im praktischen Umgang mit den neuen Medien überlegen sind. Erschwerend kommt hinzu, dass es noch nie eine so große Altersspanne zwischen Eltern und Kindern gegeben hat wie jetzt. Die Mehrzahl der heute meinungsführenden Pädagogen gehört sogar der Großelterngeneration an.
Aber da ist noch etwas anderes, das den Erwachsenen Angst macht. Sie haben seit einiger Zeit die fixe Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche stets etwas „Gutes“ und „Sinnvolles“ machen müssen – auch wenn sie selbst gerne „sinnlos“ in der Bar herumhängen. Während früher bestimmte Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen aus moralischen Gründen abgelehnt wurden (von mangelndem Gehorsam gegenüber Respektspersonen bis hin zum Onanieren), müssen Eltern heute deren Leistungswillen beweisen . Früher wurde zwischen „anständig“ oder „unanständig“ unterschieden, heute wird über „förderlich“ oder „wertlos“ geurteilt.
Das Gejammer über neue Medien im Kinderzimmer
Deshalb werden in Deutschland auf jedes zweite Spielzeug Hinweise wie „Fördert die Feinmotorik“, „Fördert die Hand-Auge-Koordination“ oder schlicht „Pädagogisch wertvoll“ draufgepappt. Eltern reicht es offensichtlich nicht mehr, wenn ein Spiel ihrem Kind oder ihnen selbst einfach Spaß macht. Es geht hierbei wohlbemerkt nicht um Schulartikel und Lernmaterial, sondern nur um die private Freizeitgestaltung.
Hinter all dem Gejammer über neue Medien im Kinderzimmer steckt also auch die schiere Sorge, dass der eigene Sprössling später einmal nicht mithalten kann, wenn er nicht schon mit zwei oder drei Jahren optimal gefördert wird. Schuld daran ist angstgesteuertes und krisengeschürtes Leitungsdenken: Der liebe Nachwuchs soll so schnell wie möglich fit für den Konkurrenzkampf in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt gemacht werden. Kindheit wird entsprechend immer weniger als Zeit der Muße und des zweckfreien Spiels begriffen.
Spiel ohne Förderung ist nicht mehr denkbar. Genuss nur um des Genusses Willens wird nicht mal mehr den Kleinsten vergönnt. Nicht einmal das allererste Spielzeug unseres Sohnes, ein bunter Stoff-Würfel, kam ohne den Hinweis darauf aus, dass hier die Farbwahrnehmung trainiert werde. Trainieren im Alter von acht Wochen. Kein Wunder, dass viele Kinder gern mal aus der für sie vorgesehenen, TÜV-geprüften und mit „spielgut“-Aufkleber versehenen Ordnung ausbrechen und am Bildschirm Quatsch machen.
© Tanja Dückers, Dezember 2012