stadt.land.krieg.

Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit
Hg. von Tanja Dückers / Verena Carl
Aufbau Taschenbuch Verlag
Berlin 2004

Klappentext

Die Enkel wollen es wissen:

Sie werfen einen langen Blick zurück – nicht im Zorn, aber mit unbequemer Wißbegier. In den letzten Jahren haben sich viele jüngere Autoren fernab der Klischees von der unpolitischen Generation mit der NS-Zeit, dem Zweiten Weltkrieg und deren immer noch allerorten spür- und sichtbaren Folgen beschäftigt. Die 30- bis 40jährigen sind den Spuren verschwundener Menschen und Orte, den Lücken und Geheimnissen nachgegangen. Allerdings tun sie das ganz anders als ihre Vorgänger, wie die Geschichten dieser Anthologie beweisen, die u.a. von Georg M.Oswald, Katrin Dorn, Annett Gröschner, Norbert Kron, Tanja Langer, Marko Martin, Leander Scholz, Vladimir Vertlib, Maike Wetzel, Tanja Dückers und Verena Carl stammen.

Leseprobe

Tanja Dückers: Der Leuchtturmwächter (polnische Ostseeküste)

Frau Kowalska:
„Wenn er kommt, dann helfe ich ihm erst einmal aus der Jacke. Und dann hakt er sich bei mir unter, er kennt mich ja, er kennt das ja, und dann gehen wir langsam zusammen in die Küche. Da steht nur eine Holzbank, ein Holztisch mit einer Tischdecke drauf, die Krystyna, meine Tochter, mir bestickt hat. Und dann setzt er sich. Wir essen immer in der Küche. Ich habe ihm schon Haferflocken mit Früchten – Waldbeeren mag er besonders – und Kaffee vorbereitet. Er trinkt viel schwarzen Kaffee, aber man merkt nichts davon. Ich meine, reden tut er trotzdem nicht. Bleiben tut er so eine Stunde bei mir, manchmal auch länger, dann höre ich noch Nachrichten, und, vielleicht, hört er auch zu. Ich weiß das nicht. Dann bringe ich ihn zurück in den Flur, ziehe ihm seine Jacke an. Er trägt so einen Parka, denn die Stajkowska für ihn besorgt hat, aus der Altkleidersammlung allerdings. Dann knöpfe ich ihm den Anorak zu. Binde ihm den Schal wieder um. Einen knallroten Schal trägt er. Den hat die Stajkowska für ihn gestrickt. Über die Farbe hat sie sich vorher Gedanken gemacht. Damit der nicht wieder verloren geht, hat sie gemeint. Also der Adam, nicht der Schal, meine ich.“

Frau Stajkowska:
„Ich hole den Adam dann bei der Kowalska ab. Meistens muß ich ihm die Schnürsenkel zu binden, weil die Kowalska das übersieht. Die Kowalska hat ihren Kopf immer so ein bißchen woanders, weiß nicht, wo sie den so hat, ich hoffe, bei ihren Kindern und ihrem Mann. Den Anorak macht sie ihm auch nicht richtig zu. Die macht ja nur mit, damit wir nicht über sie schimpfen.
Also bei mir bekommt der Adam erstmal Kräutertee, mit Rosmarin, was Wärmendes, und dann setzt er sich ins Wohnzimmer. Er weiß, daß er alle Bildbände aus den Regalen nehmen darf. Wir sind ja nach der Wende viel gereist, der Józef und ich, wir haben immer schöne Bücher gekauft. Auch ein Buch mit Fotos von Leuchttürmen. Das guckt er sich gerne an. Deshalb liegt das Buch schon auf dem Beistell-Tischchen neben dem Sofa. Und anständiges Brot mit Wurst und Käse bekommt er auch bei mir. Von ein paar Haferflocken wird doch so ein kräftiger Mann nicht satt. Dann bleibt er halt bis mittags bei uns, meistens schaue ich nach ihm, aber manchmal auch der Józef, wenn er einen freien Tag hat. Und der Jerzy, unser Jüngster – die anderen sind alle schon flügge geworden – der setzt sich manchmal zum Adam und guckt mit ihm so’n Buch an. Das find ich schön. Ich meine, der ist ja wirklich nicht zu beneiden, der Adam. Und so tun wir alle eben unsern Teil – in den Himmel kommt man nicht umsonst, oder?“

Frau Jaworska:
„Bei mir ißt er zu Mittag. Die Stajkowska fährt ihn mit ihrem Wagen zu uns rüber. Sind nur ein paar Schritte, aber der Adam geht so langsam. Und der Wind macht ihm Angst. Und wir haben ja viel Wind hier an der Küste. Wenn wir da sind, braucht der Adam nicht lange warten, der dampfende Topf ist gleich auf dem Tisch. Pünktlich wie beim Militär. Sagt mein Mann immer. Der Adam spricht ja nicht. Nur die Namen von … von so Dingen wie IKEA, DROSPA, SALAMANDER, so neue Namen eben, die dem aufgefallen sind, die murmelt der manchmal so vor sich hin. Schon komisch. Bei mir bekommt er jedenfalls ein ordentliches und gesundes Mittagessen; bei mir ist alles ganz frisch, ich spar‘ da nicht, bloß weil der Adam keine Familie hat und’s nie wird zurückgeben können. Und beim Adam ist es, denk ich mir, besonders wichtig, daß er was Vernünftiges ißt. Deshalb hab ich ihm auch extra Lezithin-Kapseln besorgt, die gibt die Frau Krystek mir umsonst, nachdem ich ihr gesagt hab, die sind für’n Adam. Da hat sie gesagt, da will sie auch ihren Teil dazu beitragen. Und Omega-3-Fettsäure-Kapseln hat sie mir auch mal so mitgegeben. Gegen Arteriosklerose. Der Adam ist ja schon alt. Dafür hat sie auch nichts gewollt. Davon geb ich aber immer die Hälfte meinem Schwiegervater, denn der hat schon ’nen Herzkaspar gehabt. Der Adam nicht. Also, da würde glaube ich jede Frau so handeln wie ich, wenn sie was umsonst bekäme für jemanden, der es eigentlich gar nicht braucht, und dann in der engsten Familie jemanden hat, dem es noch schlechter geht. Also da würde, glaube ich, jede so handeln wie ich. Zumal die Apotheke ja nun wirklich nicht am finanziellen Ruin steht. Und das ist alles, was die Frau Krystek für den Adam tut. Mehr nicht.

Frau Krystek:
Ich hab da wirklich keine Zeit für. Obwohl mir der ja auch leid tut. Wo würden’se den denn hinbringen? Hier an der Küste ist ja keine Anstalt oder so. Aber ich würd das einfach nicht schaffen, mein Mann ist arbeitet Nachtschicht, und meine Tochter fährt Motorrad und macht sich lila Strähnen ins Haar. Da hat man doch alle Hände voll zun tun! Obwohl manchmal denk‘ ich auch … naja, ich schaff das nicht. Aber wenn die Jaworska kommt, dann pack‘ ich ihr immer was für den Adam ein. Ohne Bezahlung, versteht sich. Das geht ganz auf Rechnung der „Leuchtturm“-Apotheke. Und da bin ich wirklich nicht kleinlich. Ich meine, ich hab schon vor langer Zeit kapiert, daß die Jaworska den Großteil der Präparate ihrem Schwiegervater gibt. Ihr Sohn hat den Alten letztens im Rollstuhl hier reingefahren, vor ihnen steht eine Kundin, die Omega-3-Fettsäuren kaufen will, da ruft der Alte: „Die sind gut, junge Frau, die tun nicht weh. Die gibt meine Schwiegertochter mir jeden Tag!“. Wissen Sie, da hab ich mir dann so meinen Teil gedacht. Aber sagen kann ich natürlich nichts, denn ich kümmere mich ja nie um den Adam.

Frau Matuszewska:
„Ich mag den nicht, den Adam. Ich meine, wir haben damals alle einiges mitbekommen. Abbekommen. Hier. Haben uns auch wieder, wie soll man sagen, na, aufgerappelt. Zusammengenommen. Kann doch nicht jeder nachher so … na, wie der Adam eben geworden ist. Und jetzt überbieten sich alle in Samariterhaftigkeit. Eine besser als die andere. Der Adam bekommt bei der Stajkowska – die haben ja Geld, wegen der Werkstatt – sündhaft teuren Kuchen, von dem ich nur träumen kann. Und die Kowalska, die kocht und kocht – soviel Zeit hätt‘ ich gar nicht, denn ich muß meinem Mann ja aushelfen im Blumengeschäft. Wenn der Adam bei mir zum Mittag ist, dann gieß‘ ich schnell einen Brühwürfel auf – ich eß das auch, ehrlich. Ich mach mir selbst nichts Besseres. Wir löffeln dann beide unsere Suppe, ich meine, Brot bekommt er auch dazu. Und dann nehm‘ ich ihn mit in den Blumenladen. Ist besser für ihn, als nur den ganzen Tag allein auf teuren Kissen in Wohnzimmer herumzusitzen und Bildbände anzuschauen. Und wenn er dann mal was kaputtmacht, ist gleich die Hölle los. Wegen der Vase von der Kowalska wurde dann ja die Dorfkasse für Adam ins Leben gerufen. War die Idee von der Kowalska – nachdem der Adam so ein dickes Buch geschwenkt und so’ne häßliche Vase da runtergefegt hat. Seitdem zahlen wir alle jeden Monat 80 Zloty da ein. Die Kowalska verwaltet auch die Kasse. Der Staat tut eben nicht genug. Da müssen wir schon zusammenhalten, aber ich finds übertrieben mit diesen Torten und so.
Da können’se mir mal lieber eine zum Geburtstag mitbringen!“

Dorfpfarrer Gruszecki:
„Na, so gegen 17.00, 17.30 Uhr hole ich den Adam vom Blumenladen ab. Der guckt mich immer ganz sehnsüchtig an. Der sitzt da den ganzen Nachmittag auf so einem unbequemen und dreckigen Plastik-Hocker, den die Frau Matuszewski als Fuß-Tritt benutzt, um an höher hängende Pflanzen heranzukommen. Sitzt da den ganzen Tag lang. Die Frau Matuszewski denkt vielleicht, daß ihn ihre Gespräche mit den Kunden interessieren würden, aber der Adam versteht das doch gar nicht mehr. Der murmelt nur die Namen der alten Schiffe vor sich hin, die großen Schiffe von damals, also, soviel hab ich zumindest bisher nur von ihm gehört. Und wenn er mal einer Rose ein Blatt abrupft, dann ist die Frau Matuszewska aber sauer! Rennt rüber zur Frau Jaworska und läßt sich die Rose auf der Kasse, die wir für Adam angelegt haben, auszahlen! Und wie sie sich die auszahlen läßt! Und sie bedrängt die Frau Jaworska immer, daß sie die Kasse übernehmen möchte, weil bei ihr am meisten kaputtgeht. Kein Wunder, wenn man einen Verrückten, der auch noch ein Hüne an Gestalt ist, in einen winzigen vollgestopften Blumenladen pflanzt und ihm befiehlt, sich die nächsten fünf Stunden nicht zu rühren! Also ich nehm den Adam mit, wenn ich aus der Gemeinde komme, und dann gehe ich mit ihm zu meinem Haus rüber. Das ist ein gutes Stückchen Weg, aber direkt am Meer entlang. Manchmal muß ich ihm sagen, daß er nicht so schlurfen soll, weil er so viel Sand aufwirbelt. Kratzt mich in den Augen. Aber dem tut das gut, mal an der frischen Brise herumzulaufen und nicht nur vor Schnittblumen zu hocken.“

Herr Garsztecki:
Ich geh dem aus dem Weg, wenn ich meinen Strandspaziergang mache. Unsern Priester grüß ich, aber diesem lebendigen Tod wünsche ich nicht fröhlich einen „Guten Tag“. Nee. Der ist hängengeblieben. Der ist einfach nicht mit der Zeit mitgegangen. Hier hat sich doch so viel verändert! Wir haben ein tolles neues Schwimmbad bekommen, die Bibliothek und das Kleine Kurtheater, den Spielplatz und die Einkaufspassage, hier hat sich so viel verändert, wir haben sogar ein Gymnasium! Es ist ja nicht so, daß ich nicht mehr wüßte, was hier … aber die Welt dreht sich doch zum Glück! Ich geh dem aus dem Weg, der erinnert mich an damals. Hab sogar mal einen Alptraum von ihm gehabt. Brr. Nee. Die Frauen können ja ihren Sozialen an dem ausleben, ich finde, der gehört in ’ne Anstalt. Aber das sag ich jetzt ganz leise, denn der Priester ist ja eine Autorität bei uns.

Frau Zanska (Haushälterin vom Priester):
„Ich laufe den beiden immer entgegen und löse unsern Priester ab. Der bleibt noch etwas am Meer stehen, mit seinem Fernglas. Der Adam ist oft ganz durchgefroren. So ein großer Mann – und friert so schnell! Ich nehme dann seine Hand, das mach ich einfach, und schnurstracks geht’s nachhause in die Wohnstube, da ist es gemütlich und warm, und ich stelle Musik für ihn an. Ich wasche dann ab und mache so dies und das, meine Kinder sind auch da – die haben sich schon an ihn gewöhnt. Meine Kinder wissen ja, daß wir hier so eine Art Offenes Haus haben. Ich helfe ja schon seit mehr als zehn Jahren beim Priester aus. Und wir im Dorf halten zusammen. Es ist wirklich nicht leicht, aber man kann den Adam ja nicht alleine lassen. Und schon gar nicht alleine am Meer. Deshalb … eigentlich möchte ich das jetzt gar nicht sagen … nein, unser Priester meint es ja gut. Aber … eigentlich finde ich es nicht gut, daß er mit dem Adam den Weg am Meer nimmt, ich meine, sie könnten doch wirklich auch da unten lang bei den Holunderbüschen … ich glaube, das macht unser Priester sich nicht so klar, er denkt, der Adam müßte das Meer auch so lieben wie er es tut.“

Jan Zanski (Sohn der Haushälterin):
„Für mich ist es jedesmal ein kleiner Schock, wenn er da sitzt. Er tut das zwar schon seit vielen Jahren, aber so im ersten Moment, wenn ich die Tür aufmache, zack! sitzt der da. Mit seinen komischen Augen, die durch einen hindurchgucken, als sei man nicht da. Ich finde den voll unheimlich, und ich weiß, daß meine Schwestern den auch ganz fies finden. Wir sagen das natürlich nicht! Aber ich fänd’s schon besser, wenn unsere Mutter uns wenigstens vorher sagen würde: Heute kommt der Adam wieder. Ich meine, dann erschrecke ich nicht so. Ich hab ja nichts gegen ihn. Aber ich finde es schon komisch, wenn da jemand ist, von dem man nie weiß, ob der das alles mitkriegt, was man so erzählt oder gar nichts mitkriegt. Mir macht der Angst. Und Dino auch.“

Dino (Schäferhund):
„Ich mag nicht essen, wenn Adam mein Fell streichelt. Das macht er ja immer. Streichelt, aber ich hab das Gefühl, er meint nicht mich dabei. Könnte irgendeinen Hund streicheln. Vielleicht auch einen Teppich oder eine Wand. Er streichelt mich, meine Herrin lobt ihn dafür, aber er schaut durch mich hindurch. Aus dem Fenster. Und ich merke, daß er Angst hat.“

Herr Kloczowski:
„Bei uns bringt die dicke Zanska, die Geliebte des Priesters, das weiß ja jeder, den Adam vorbei, wenn er bei ihnen nicht schlafen kann. Ihre Kinder laden immer alle möglichen anderen Kinder ein, bei ihnen zu übernachten, damit das Sofa und die Couch belegt sind. Die Kinder von der Zanska fürchten sich eben vorm Adam.
Wir haben ja keine. Wenn ich an Kinder denke, denke ich sofort an die, die der Adam damals aus dem Wasser gezogen hat. Tag für Tag. Immer neue kamen angeschwemmt. Manchmal hab ich ihm geholfen. Damals war er noch Leuchtturmwächter, hat die Schiffe gesehen. Die großen deutschen Schiffe. Die Gustloff, die Steuben, die Goya. Die sind ja alle fast an der gleichen Stelle von den Russen torpediert worden. Nur ein paar hundert Meter vor der Küste entfernt hier bei Stolp – auf dem Weg nach Lübeck oder Kiel. Wir Polen waren ja immer dazwischen – immer dazwischen und immer mittendrin in der Scheiße. Und ich hab dem Adam geholfen. Hatte den Regenmantel meines Vaters an. Mit langen Eisenstäben haben wir die rausgeholt.
Gut, daß wir keine Kinder bekommen haben. Verrückt geworden sind wir wenigstens nicht.“

Adam (den Vorhang zuziehend, kaum hörbar singend):
„Schlaf. Fenster. Schlaf. Schlaf. Fenster. Schlaf. Wenn du jetzt leise bist, Wind, dann schlaf ich auch.“

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