veröffentlicht in Jungle World, März 2913
So viele Gäste wie zur Eröffnung der Ausstellung „sehr gut / very good“ hat der Hamburger Bahnhof selten gesehen. „Wir müssen einfach den Zeitgeist getroffen haben“ stellt Kuratorin Britta Schmitz zufrieden fest. Und genau da beginnt das Problem. Die Retromania kennt kein Ende. Am 25. Februar wäre der Ausnahmekünstler – oder vielleicht doch eher Ausnahmefall – Martin Kippenberger 60 Jahre alt geworden. Er starb am 1997, erst 44-jährig, nach einem exzessiven Leben in Wien an Leberversagen. Durch den Hamburger Bahnhof flanieren sie also in Rudeln, die Generationsgenossen und die, die an die Siebziger und Achtziger Jahre zumindest noch ein paar vage warme Jugenderinnerungen haben. Wir sind alle älter geworden, nur „Kippi“ eben nicht, und das tut gut. Überall schaut er uns jung und rotzig an aus seinem Kreuzberger Büro am Segitzdamm oder cool mit offenem Mantel unter dem Schriftzug „Souvenirs“ zwischen Emblemen zum dreißigjährigen Jubiläum der DDR als seien die späten Siebziger und Achtziger Jahre noch in vollem Gange. Auf Stelltafeln wird auch gleich erinnert, dass er ja kurzzeitig Mit-Geschäftsinhaber des legendären SO36 war, in der Paris Bar aß und vor allem trank und in der Band „Luxus“ spielte. Wir alle erinnern uns wehmütig an die Zeit, in der die Mieten noch unsagbar billig waren und die Straßen nach Kohleofen rochen. Herr-Lehmann-Feeling macht sich breit. Man ist gefühlt wieder im alten West-Berlin, denkt an romantische Mauertristesse, an eine andere Weltordnung, die starrer, aber übersichtlicher schien. Damals waren die Schwaben in Berlin noch Hausbesetzer und nicht Hausbesitzer, die Schrippen hießen noch Schrippen und niemand dachte daran, die Mauer zu touchieren. Und dann läuft auch noch superlaut im Untergeschoß der Rieckhallen: „Yes Sir, I can boogie“ von Baccara. Irgendwo steht Kippenbergers Spruch „Musik ist schön. Wie solls weitergehen? Umso lauter. Umso besser.“ Kippenberger hatte sich gewünscht, man würde 20 Jahre nach seinem Tod über ihn sagen, er sei einer gewesen, der gute Laune verbreitet hat. „Ich arbeite daran, dass die Leute sagen können: Kippenberger war gute Laune!“
Lange in Berlin gelebt hat Kippenberger indes nicht, lediglich von 1978- 1981, dann zog er weiter nach Köln – und von dort rastlos weiter von Ort zu Ort, von Graz über Madrid, Mexico City bis nach Los Angeles.
Im Hamburger Bahnhof hat man sich leider nicht von der üblichen biographisierenden Sichtweise auf den Künstler Martin Kippenberger distanziert. Jeder Raum in den Rieckhallen wird von einem lebensgroßen Familienalbum-Foto („Martin mit seiner Mutter“) eröffnet. Und das, obwohl man doch, laut den Kuratoren, keinen Personenkult betreiben und auf Pathos verzichten will. Man folgt damit Kippenbergers verführerischer Attitüde, geht ihm gewissermaßen auf dem Leim. Denn einen größeren Selbstvermarkter als „Kippi“ hat es selten gegeben. Und meist wird er erst dann wirklich gut, wenn er nicht um sich selbst und seinen Säufer-Kumpanen-Kosmos kreist.
Pseudowitzige Bemerkungen á la „Herrenwitze sind so wichtig wie er liebe Gott“ oder in Umkehrung des Diktum von Beuys „Alle Menschen sind Künstler“ in „Alle Künstler sind Menschen“ (Kippenberger) hinterlassen keinen nachhaltigen Eindruck. Sie wirken erschreckend datiert, plötzlich nicht mehr frech und provokant, sondern alt. In seiner Arbeit „1/4 Jahrhundert Kippenberger“ bezeichnet er sich u.a. als Angeber, Oberspanner, Anführer. Ja, stimmt: damals war „Du Spanner“ ein beliebtes Schimpfwort. Kippenbergers mal affirmativer, mal verneinend-ironisierender Narzissmus ermüdet schon nach dem Durchschreiten weniger Hallen. Hier ein „Einer von Euch, unter Euch, mit Euch“, dort ein hundeäugiges „Bitte nicht nachhause schicken“ (1983) oder ein „Martin, ab in die Ecke und schäm Dich“ (1989). Immerhin: Im Vergleich zu jemanden wie Anselm Kiefer, diesen sehr deutschen Sand- und Bleigeschichten, ist da auf einmal Humor und Leichtigkeit – für die damalige Zeit eine bemerkenswerte Novität. Wenn man heute nochmal durch die „Zeitgeist“-Ausstellung gehen würde (Herbst 1982 im Gropius-Bau), würde man denken, die teilnehmenden Künstler planen demnächst, kollektiv Selbstmord zu begehen. Kippenberger: der lang ersehnte, der notwendige Clown. Es passt zu ihm, das er Silhouetten des französischen Komikers Louis de Funés auf Spiegel gemalt hat – jeder Betrachter findet sein eigenes Konterfei hinter den Umrissen des cholerischen Patriarchen. Ja, man wird oft in die Komik miteinbezogen. Aber nicht jeder Scherz des enfant amusant hält länger vor. Sentenzen wie „Was Gott im Herrschen ist, bin ich im Können“ sind weder Brüller noch Geistesblitze. Viele der One-Line-Kneipen-Jokes haben keine lange Halbwertszeit. Doch manchmal kann Kippenberger auch den Zeitgeist ganz hinter sich lassen hinaus– wie in den beeindruckenden Portraits am Ende seines Lebens, in denen er sich in den Posen des Schiffbrüchigen von Théodore Géricault in seinem berühmtem Gemälde von 1819 wiedergibt.
Wenn Kippenberger das leidige Künstlergenius-Thema, an dem ich schon viele vor ihm abgearbeitet haben, mal beiseite lässt und sich aufs politische Parkett begibt, wird er witziger. „Ski heil!“ grüßt ein Biber auf Skiern. „Ich kann beim besten Willen keine Hakenkreuze erkennen“ – so der Titel des bekannten Gemäldes mit dunklen Balken, siamesischen Hakenkreuz-Zwillingen: Ein großartiger Kommentar zur bundesrepublikanischen Nachkriegswirklichkeit. Kippenbergers „Love affair without racism“ – ein weißlicher und ein schwarzer Kasten stehen dicht voreinander – ist auch ein gelungener skulpturaler Kommentar.
Wo Kippenberger aufhört, um „Kippi“ zu kreisen, ist er ein großer Künstler. Ab 1987 überträgt Kippenberger menschliches Verhalten auf Objekte und schafft seine berühmten „betrunkenen Laternen“. Er verbiegt und verdreht die Straßenlichter, lässt blutrotes Licht in ihnen flackern. Er fertigt einen Negativabdruck mit herausgestrecktem Arm aus einer Badewanne (eine seiner besten Arbeiten) an, der Bruce Nauman nicht nachsteht, er baut Schneewittchen einen Sarg mit einer Sprechvorrichtung nur für „Versprecher“, er lässt schemenhafte Schreckensgesichter aus einem dunklen Gummibild auftauchen – hier gelingt Kippenberger die Verwandlung, die Ekstase der Kunst. Was man jedoch vermisst, ist die beeindruckende Großinstallation „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika’“.
Den interessanteren Werken Kippenbergers wird mit der biographischen Begleitung keinen Gefallen getan, die starke Suggestivität ihrer Bildsprache wird für den Betrachter durch die Klammer seines wilden Lebens in ein scheinbar lesbares Narrativ übertragen. Genau das ist überflüssig. Die Arbeiten benötigen keinen biographischen Rahmen, keine Psychologie. Gelungen ist wiederum ein kleiner Raum, in dem die Musikerin Gudrun Gut Songs verschiedener Bands kompiliert, die damals im SO 36 auftraten. Dieser Raum steht für sich – als akustisches Fernrohr in die Vergangenheit.
Über all der 80er-Party befindet sich im Obergeschoss die Weiße Reihe: „Ohne Titel (Weiße Reihe)“ von 1991. Und hier, plötzlich, findet man ihn doch, den ganz großen Künstler – mit einer Arbeit, in der er sich von sich selbst gelöst, und wie es scheint, auch erlöst, hat: Elf weiße Bilder sind, auf Anweisung Kippenbergers, in die Wand eingelassen und so verfugt, dass sie Teil dieser werden. Wenn man an sie herantritt, wird eine schimmernde weiße Kinderschrift sichtbar. Sie versinkt ebenso in den Bildern wie diese in den Wänden. Die Kinderschrift zählt Werke von Kippenberger auf und „benotet“ sie am Ende mit stetigem „sehr gut“ oder „very good“. Beim Betrachten einiger seiner Ausstellungskataloge bat Kippenberger den neunjährigen Sohn von Freunden, die abgebildeten Werke je kurz zu beschreiben und das Urteil „sehr gut“ anzufügen. Die englischen Übersetzungen schrieb der Junge noch nach einer Vorlage ab. Diese „Zeugnisse“ projiezierte Kippenberger auf weiße Leinwände und übertrug die Schrift – inklusive Fehler – mit hellem Lack auf das Bild. Dieser wie eine endlich verblassende Erinnerung an die Schulzeit konservierte Schrecken ist enorm beeindruckend und formalästhetisch gelungen.
Hier oben denkt man: Es hat sich gelohnt, die Achtziger erlebt – und überlebt – zu haben.
Martin Kippenberger: „sehr gut / very good“. 23. Februar – 18. August 2013
Kuratiert von Udo Kittelmann und Britta Schmitz. Ko-Kuratorin: Miriam Halwani
Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart – Berlin, Invalidenstraße 50-51 10557 Berlin
© Tanja Dückers, März 2013