veröffentlicht auf ZEIT Online, Juni 2014
Lange galt es als ausgemacht, dass die Arbeit der Stressfaktor Nummer 1 für die Menschen in den westlichen Industrienationen ist. Unzählige Ratgeber sind in den Jahren über Themen wie Mobbing am Arbeitsplatz, cholerische Chefs und den geschickten Umgang mit ihnen, über nervende Kollegen, Drückeberger und Faulenzer erschienen – nicht zu vergessen die vielen Lebensbeichten zum Thema Burn-out.
Doch womöglich lauert Ungemach an ganz anderem Ort als bislang vermutet:
Forscher um die amerikanische Professorin Sarah Damaske von der Penn State University haben die Cortisolwerte von 122 Probanden – zufällig ausgewählte Angestellte, Männer und Frauen – nach bestimmten Aktivitäten und an verschiedenen Wochentagen gemessen. Der Cortisolwert ist ein zentraler Belastungsindikator, das Hormon wird vermehrt bei Stress ausgeschüttet.
Die frappierende Erkenntnis: Die Mehrzahl der Männer und Frauen fühlten sich von ihrem Privatleben mehr angestrengt als von ihrem Beruf. Die Werte fallen für Männer und Frauen etwas unterschiedlich aus. Bei Frauen war der Unterschied zwischen dem Cortisolwert auf Arbeit und zu Hause größer. Das Berufsfeld spielte eine untergeordnete Rolle.
Bei der Arbeit gibt es Anerkennung
Eine Teilnehmerin der Studie begründete dies so: Auf der Arbeit werde klar erkannt, was man geleistet oder nicht geleistet habe, es gebe Lob oder Kritik. Zu Hause leiste man jede Menge Arbeit, die überhaupt nicht wahrgenommen, sondern für selbstverständlich gehalten werden werde.
Ferner beklagten viele Teilnehmerinnen, nach einem langen Arbeitstag warte zu Hause gleich die zweite Schicht. Übergangslos müssten die Kinder betreut, die Wäsche gewaschen, das Essen gekocht werden. Für Väter scheint der Abend in den eigenen vier Wänden eher Feierabend zu bedeuten als für Mütter.
Männer beklagten jedoch, zu Hause gebe es zu wenige Regeln. Auf Arbeit seien Schreien und Weinen nicht erlaubt und es gebe klarere Prinzipien, an die man sich im Allgemeinen zu halten habe.
Freizeit will genutzt werden
Die Studie legt auch nahe, dass viele Menschen heute sehr hohe Erwartungen an eine erfüllte und sinnvoll genutzte Freizeit haben. Während es noch vor wenigen Jahrzehnten üblich war, unter der Woche abends im Wohnzimmer zusammen Mensch-ärgere-Dich-nicht zu spielen, am Sonntag spazieren zu gehen oder auch einfach nichts zu tun, müssen heute aufwändige und teure Sportarten betrieben, Städtekurztrips in andere Länder gestemmt und mit den Kindern jede Menge abenteuerliche Dinge unternommen werden – Kirmes und Kuchenessen reicht heute nicht mehr.
Lothar Seiwert sieht das Problem darin, dass wir heute in kürzester Zeit immer mehr und immer Extremeres erleben wollen. „Das überfordert uns“, sagt der Experte für Zeitmanagement in einem Interview mit der Huffington Post.
Auch wenn die Studie der Penn State University Ergebnisse über US-Amerikaner liefert: In Deutschland ist die Situation nicht signifikant anders. Eine Forsa-Studie, in Auftrag gegeben von der Techniker Krankenkasse, kam zu dem Ergebnis, dass 6 von 10 Deutschen ihr Leben generell als viel zu anstrengend empfinden. Besonders gilt dies für die Sandwichgeneration, die sich gleichzeitig um (kleine) Kinder und alt werdende Eltern kümmern muss, von der Arbeit ganz zu schweigen. In dieser Altersgruppe gaben 8 von 10 Befragten an, unter großem Stress zu stehen. Auch hier trägt das Privatleben entscheidend zu dem Gefühl bei, überanstrengt zu sein.
Kontemplation aus der Mottenkiste holen
Viele Ratgeber haben in den vergangenen Jahren vorgeschlagen, den Arbeitsstress im Büro ruhen zu lassen, noch eine Runde spazieren zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen, bevor es nach Hause geht. Doch offenbar muss dort einiges geändert und entschleunigt werden. „Zu Hause sollte es etwas mehr wie im Büro sein“, sagt nun prompt Richard Levak, Psychologe aus Kalifornien. „Auch das Privatleben braucht Struktur.“
Er plädiert für klar definierte Grenzen, zeitliche und geografische Rückzugsräume und eine strikte Aufteilung der häuslichen Aufgaben, damit kein Organisationschaos entsteht. Nach Meinung von Friederike Otto, Pädagogin und Leiterin des Forschungsverbundes Familiengesundheit an der Medizinischen Hochschule in Hannover, erziehen viele Eltern heute zu sehr „nach dem Zufallsprinzip“.
Mehr Kontemplation
Beruhigend ist eines: Schon im Altertum gab es Diskussionen darüber, wie man Arbeit und Ausruhen, An- und Entspannung – die vita activaund die vita contemplativa miteinander in Übereinstimmung bringen kann. Vielleicht sollte man den Begriff der Kontemplation wieder hervor holen, statt in seiner Freizeit vom Wildwasserkajakfahren zum Power-Climbing und vom Art-Brunch zur Vernissage mit Mitternachtsperformance zu tigern.
© Tanja Dückers, Berlin, im Juni 2014