Veröffentlicht in Jungle World, 19. April 2006
Schauen wir uns das Foto auf dem edlen Hochglanzumschlag doch einmal genauer an: Mit sturmverwehtem Haar, gequältem Gesichtsausdruck und gegerbter Haut will uns da ein Heroe des Wortes für sich einnehmen. Der Blick von unten, scheinbar schamhaft aus der Gosse oder den Abgründen der menschlichen Existenz, soll Authen tizität vermitteln. Natürlich ist der Autor da um einiges jünger als 64 Jahre, aber das gehört zur Werbe praxis.
John Irving ist der Reinhold Messner der US-amerikanischen Literatur, der Schicht- und Akkordarbei ter, der Holzfäller, der literarischen Extremsport betreibt. Nachdem „Garp und wie er die Welt sah“ nach den verschiedenen Buchausgaben auf 19 CDs erschienen war, hat er uns in diesem Frühjahr einen knapp 1 200 Seiten langen, schweren Brocken vor die Füße gerollt (auch auf 20 CDs gepresst erhältlich, als Hörbuch für Ihre US-Reise von Küste zu Küste), im Diogenes-Buchformat ein geradezu würfelförmiges Etwas. Übel nehmen dürfen wir ihm das nicht, denn er hat ja, was eindeutig aus jedem seiner zahllosen Interviews hervorgeht, darunter schwer gelitten.
Deutsche Rezensenten und Autoren neigen dazu, von diesen oft eher dickleibigen als „großen“ Werken ihrer amerikanischen Kollegen beeindruckt zu sein. Die Amis haben eben schon immer die längs ten Schlitten gefahren, die höchsten Häuser gebaut, die größten Politikerköpfe in Stein gehauen, das fetteste Essen vertilgt. Und zur Devise „Think big!“ dieses Landes scheinen auch die oft reichlich unökonomisch erzähl ten Familiensagen zu gehören. Während die Jüngeren, wie Jonathan Franzen („The Corrections“, 2002, 601 Seiten) und Jeffrey Eugenides („Middlesex“, 2003, 736 Seiten), wenigstens ein lebendiges vielstimmiges Personal und nicht nur allzu stark ihnen selbst ähnelnde Protagonisten entwerfen, während sie wenigstens Plots konstruieren, die nicht allzu sehr an das jeweils vorausgegangene „Opus magnum“ (jedes Jahr erscheint ein neues) erinnern, kreist Irving in immer gleicher Manier um sich selber.
Wer sich nicht für Tattoo-Kunst interessiert, ist bei ihm falsch aufgehoben, ebenso geht es demjenigen, der sich nicht für den Boxkampf zu begeistern vermag. Kindesmissbrauch ist noch so ein Thema, das zwar hohe gesellschaftliche Relevanz besitzt, aber auch einmal jenseits von Figuren, die die FAZ ausnahmsweise einmal treffend „schmeichelhafte Alter Egos“ von Irving genannt hat, behandelt werden könnte. Und vielleicht, zur Abwechslung, auch einmal bei Frauen.
Dabei muss man Irving lassen, dass er ein guter Handwerker ist, vernünftig recherchieren kann und keinen Unsinn, nur viel Überflüssiges erzählt. Nicht grundlos habe ich ihn mit Reinhold Messner verglichen, und nicht mit dessen schon früh abgestürztem Bruder. Irving gehört zu den großen amerikanischen Vielerzählern, denen in ihrem nicht eben bescheidenen Anspruch, ganze Biographien, Dynas tien, Gesellschaften, Epochen und auch noch all das Verborgene unter der sicht baren Ober fläche dieser Gebilde und Zeitläufte auserzählen zu wollen, oft der ge nia le Funke, der Blitz, der den Leser mit einem einzigen Wort oder Satz trifft, abhanden kommt. Der grandiose Einfall, der packende Moment ist Irvings Sache nicht, eher, wohlwollend gesagt, das „vielschichtige Tableau“.
In „Bis ich dich finde“ stößt der Leser im Laufe seiner wochenlangen Lese-Gefangenschaft dennoch auf viele gelungene Passagen über das Verhältnis des Jungen Jack Burns zu seiner allzu starken Mutter, über erotische Qualen, über die Suche nach Jacks verschwundenem Vater, einem Organisten, auf den die Frauen wegen seines „seriösen“ Jobs und Betragens reihenweise hereingefallen sind und der so etwas wie das innere Zentrum dieser wabernden Buch-Galaxie ausmacht. Wer Orgelmusik etwas abgewinnen kann, kommt in aus ufern den Einschüben auch auf seine Kosten. Aber warum muss Irving auf jeder Seite mindestens drei Sätze in Klammern setzen? Wir erfahren über nie wieder auftauchende Randfiguren, wo sie sich tätowieren ließen oder eine Wurst gegessen haben, uns werden Witze erklärt, die ohne Kommentare in Klammern viel lustiger wä ren, wir sind ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Vielleicht waren daran ja die Übersetzer auch ein bisschen mit schuld.
Zu Irvings Erfolg trägt vor allem die typische Mischung aus vitalistisch-masku linen Topoi (Tattoos, Ringkampf, auch Bären tauchen auffällig oft auf) und „sensiblen“ Themen bei, männ licher Schüchternheit und Furcht, männ lichen Trauma ta, Angst vor Frauen etc. Auch der abwesende idealisierte Vater, die Sehn sucht nach einem „starken Daddy“ gehört dazu. Diese Themenmischung gibt den Lesern, die ja, wie wir wissen, in erster Linie Leserinnen sind, das Gefühl: Hier ist ein cooler Typ mit Herz am Werk gewesen. Rauhe Schale, weicher Kern kann man das auch nennen, und diese Kombination hat schon immer die Börsen an den Kassen in den Buchläden und einiges mehr geöffnet.