veröffentlicht auf ZEIT Online, Juni 2015
Das Schuljahr neigt sich zu Ende, und in den letzten Wochen haben viele Eltern erfahren, ob ihre Kinder einen Platz an ihrer weiterführende Wunsch-Schule erhalten haben oder nicht. Das klingt sehr sachlich. Tatsächlich haben sich bundesweit, von Flensburg bis Oberammergau, Dramen abgespielt. Früher standen Schüler vor allem vor dem Abitur sehr unter Stress, um einen bestimmten Notendurchschnitt zu erreichen. Heute stehen schon Grundschüler unter massivem Stress, wenn sie für den Übertritt auf Gymnasium oder Realschule einen bestimmten Schnitt erreichen müssen. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Universität Würzburg (http://www.jugendforschung.de/pdf/SEB-33.pdf). So trauen sich schon Neunjährige nicht, eine Zwei oder eine Drei mitnachhause zu bringen. Heinz Reinders, Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Würzburg und Co-Autor der Studie, stellt fest, dass in Bundesländern wie Bayern, in denen sich aus dem Notendurchschnitt obligate Schulzuweisungen ableiten, fast jeder zweite bayerische Dritt- und Viertklässler erhöhte Stresswerte zeige. Diese seien „alarmierend“, so der Bildungsforscher. Bei 16 Prozent der Schüler sei die Belastung so hoch, dass „eine Gefährdung des Kinderwohls nicht mehr weit entfernt ist“.
In Bundesländern wie Hessen, in denen lediglich Empfehlungen an die Eltern ausgegeben werden, glaubt nur rund ein Viertel der Eltern, dass die Frage nach der weiterführenden Schule ihr Kind sehr belaste. Auch die Eltern leiden mit: Mehr als die Hälfte (54,6 Prozent) der bayerischen Eltern von Viertklässlern empfinden den Grundschulabschluss als sehr nervenaufreibend. Besonders Eltern ohne Abitur oder Studium fühlen sich von der Situation oft überfordert, während Akademikereltern weniger schnell zu verunsichern sind und eher davon ausgesehen, dass ihr Kind den Wechsel aufs Gymnasium schaffen wird. Reinders plädiert für neue Regeln beim Übertritt. Beratungen und Empfehlungen sollen den obligaten Notendurchschnitt ersetzen.
Das ist ein sehr berechtigtes Anliegen. Denn die in Deutschland im europäischen Vergleich „frühe Selektion“ für das Gymnasium, so der historisch unsensible gewählte Fachbegriff, ist schon seit Langem umstritten. In Finnland beispielsweise müssen sich Schüler erst nach Abschluss der 10. Klasse entscheiden, ob sie eine weiterführende Schule besuchen wollen oder nicht. Bis dahin werden alle Schüler gemeinsam unterrichtet, was ihren Leistungen keinerlei Abbruch zu tun scheint. Viele Experten sind der Ansicht, dass es problematisch ist, bei erst neun- bis zehnjährigen Kindern eine so weitreichende Entscheidung zu treffen. Besonders Jungen werden hierbei oft benachteiligt. Nach Ansicht des renommierten Schweizer Kinderarztes und Bestsellerautor Remo Largo („Babyjahre“, „Kinderjahre“, „Schülerjahre“) beträgt der Reifeunterschied zwischen zehnjährigen Mädchen und Jungen rund anderthalb Jahre. Das ist ein großer Abstand. Er zieht sich von Geburt
an durch die gesamte Kindheit und Jugend. (vgl. Remo Largo: „Lernen geht anders“, Edition Körber Stiftung, 2010, sowie http://www.familylab.de/files/Artikel_PDFs/Presse_2013/Newsletter_11_2013/Podiumsdiskussion_Bildungskongress_2013_Huether_Largo.pdf). Schon Neugeborene weisen, hinsichtlich des Geschlechts, einen Reifeunterschied auf(http://www.rund-ums-baby.de/fruehgeburt/Reifeunterschiede-Maedchen-Jungen_1390.htm).
Entsprechend haben neun- oder zehnjährige Jungen haben schlechtere Chancen, auf ein Gymnasium zu kommen als gleichaltrige Mädchen. Ausgangspunkt für Remo Largos schulkritisches Buch „Lernen geht anders“ war seine Feststellung, dass in der Schweiz knapp 60 % der Schüler, die Gymnasien besuchen, Mädchen sind und nur gut 40 % Jungen. In Deutschland ist die Kluft zwischen den Geschlechtern nicht ganz so eklatant, aber sie ist auch vorhanden.
Um das Alter für den Übertritt aufs Gymnasium noch etwas hinauszuzögern, bietet man im Bundesland Berlin zwei Optionen an: Die Schüler können nach der vierten Klasse oder – analog zum bundesweiten Modell – nach der sechsten Grundschulklasse aufs Gymnasium wechseln. Unumstritten ist dieses Modell nicht. Die Schüler, die erst nach der sechsten Klasse aufs Gymnasium kommen, hinken denen hinterher, die schon früher wechseln durften. Die zunächst stattfindende Trennung bei späterer Zusammenführung führt zu großen Unterschieden im Wissensstand der Kinder: Die einen müssen ihr Tempo drosseln, die anderen beschleunigen – auch für Lehrer ist solch ein Leistungsgefälle nicht einfach zu handhaben.
Um den geplagten Grundschülern am Ende der vierten Klasse auf der Seite zu stehen, greifen gerade bemühte und engagierte Lehrer auf eine fragwürdige Methode zurück: sie vergeben sehr gute Noten. Daher findet an vielen Grundschulen eine regelrechte Einser-Noten-Inflation statt. An manchen Berliner Grundschulen machen Kinder mit Einser-Zeugnisse schon die Mehrheit ihrer Klasse aus. Wenn Einsen wie Dreien vergeben werden, wird das ganze System des Leistungsvergleichs aufgrund von Benotungen und die notenabhängige Entscheidung für die weiterführende Schule erst recht ad absurdum geführt.
© Tanja Dückers, Berlin, im Juni 2015