Lion und Marta Feuchtwangers kalifornisches Emigranten-Domizil ist heute eine Begegnungsstätte für junge Künstler aller Disziplinen
Die Welt, 30. November 2005
„Ein wahres Schloß am Meer“, nannte Thomas Mann die Villa der Feuchtwangers, die von 1943 an auch als Treffpunkt der deutschen Emigranten und ihrer amerikanischen Kollegen fungierte. Hoch in den Hügeln von Santa Monica liegt das Anwesen mit dem verheißungsvollen Namen „Villa Aurora“ – mit 22 Räumen, Bibliothek, Orgelzimmer, einem mit Azulejo-Mosaiken versehenen Innenhof und einer weitläufigen Terrasse mit Blick über die Landzunge Palos Verdes bis hin zur Pazifikinsel Santa Catalina.
1927 im spanischen Kolonialstil erbaut, war die nach der römischen Göttin der Morgenröte benannte Villa von jeher etwas Besonderes: Als „Los Angeles Times Demonstration House“ fungierte sie als Musterhaus zeitgenössischen High-tech-Wohnens; Ende der zwanziger Jahre schon ausgestattet mit elektrischer Garagenöffnung, Kühlschrank, Geschirrspüler, integrierter Orgel im Wohnbereich und einer aufsehenerregenden futuristischen Maschine, mit der man sowohl Eier schlagen als auch Silber polieren konnte. Woche für Woche berichtete die Los Angeles Times über die Fortschritte bei der Konstruktion des Gebäudes. Die Villa war schon lange, bevor sie Feuchtwanger kaufte, im Interesse der Medien, Stadtplaner, Architekten und der aufmerksamen Öffentlichkeit von Los Angeles. Mittlerweile ist Pacific Palisades, der Stadtteil, in dem die „Villa Aurora“ liegt, längst einer der prominentesten Bezirke von L.A. Steven Spielberg lebt neben vielen anderen Stars hier, Beverly Hills und Bel Air sind Nachbarviertel. Doch als die Feuchtwangers das Gebäude am Paseo Miramar, wie die gewundene Straße vom Sunset Boulevard hoch in die Santa Monica Mountains heißt, besichtigten, standen erst neun Häuser an den Serpentinen. Aus Angst vor einer japanischen Invasion an der Küste zog es nur wenige Amerikaner hierher, außerdem war im Krieg Benzin rationiert worden, der Bezirk lag zu fernab. So konnten Lion und Marta Feuchtwanger das Haus (das Peggy Guggenheim und Katia Mann bereits abgelehnt hatten) für ganze 9000 Dollar kaufen. Der heutige Wert wird auf 50 Millionen US-Dollar geschätzt.
Doch vor ihrem Einzug in das palmenumrankte, palastähnliche Anwesen durchlebten die Feuchtwangers schlimme Zeiten: Propagandaminister Goebbels hatte Lion Feuchtwanger zu den „ärgsten Feinden des deutschen Volkes“ erklärt; seine Werke, 1929 noch in der engeren Wahl für den Nobelpreis, waren den Bücherverbrennungen zum Opfer gefallen. Nach einer Vortragsreise in den USA kehrt Lion Feuchtwanger nicht mehr nach Deutschland zurück. Die Feuchtwangers siedeln sch in Sanary-sur-Mer an, einem Idyll an der Cote d’Azur. Nach Kriegsausbruch wurde er jedoch von den französischen Behörden mit weiteren 3000 politischen Flüchtlingen in der ehemaligen Ziegelei Les Milles interniert. Die tägliche Angst vor den heranrückenden deutschen Truppen erreichte im Lager, in dem auf verlausten Strohmatten geschlafen und zur Reduzierung der sexuellen Bedürfnisse Brom unter das Essen gemischt wurde, ein kaum erträgliches Maß. Zu diesem Zeitpunkt (1940) war Lion Feuchtwanger schon 56 Jahre alt. Auf abenteuerlichstem Weg, in Frauenkleidern aus dem Lager geschmuggelt und zu Fuß über die Pyrenäen gelangt, konnte er schließlich mit Eleonore Roosevelts Hilfe von Lissabon aus über den Atlantik fliehen.
Los Angeles besaß damals als „Welthauptstadt des Films“ für viele Emigranten große Anziehungskraft. Einige Schriftsteller, darunter auch Feuchtwanger, versuchten sich im Verfassen von Drehbüchern, eine Aufgabe, an der so mancher scheiterte (es ist bekannt, daß Heinrich Mann und Brecht diese Arbeit verabscheuten), die aber immer noch attraktiver war als die, die oft ihren Schauspielerkollegen zufiel: die Darstellung von Nazifiguren in amerikanischen Propagandafilmen. Deutsche Exilschauspieler fanden sich oft paradoxerweise in der Rolle derjenigen wieder, vor denen sie geflohen waren.
Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Alfred Döblin, Ludwig Marcuse, Bruno Frank, Hanns Eisler, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Kurt Weill, Albert Einstein, Theodor Adorno, Arnold Schönberg, Charlie Chaplin, Aldous Huxley – Künstler und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen kamen in der „Villa Aurora“ zusammen, um zu diskutieren, vorzulesen, zu musizieren, zu streiten. Manche sprachen vom „Weimar an der Westküste“, andere von „New Weimar“. Feuchtwangers Domizil wurde somit zu einer der wichtigsten Begegnungsstätten deutscher und amerikanischer Kultur im 20. Jahrhundert.
Die „Villa Aurora“ ist heute, wie DER SPIEGEL schrieb, „das letzte noch existente Kulturdenkmal der deutschen Exilliteratur“. Die Häuser von Thomas Mann und anderen sind entweder privat vermietet oder abgerissen worden. Als Marta Feuchtwanger 1987 starb (sie überlebte Lion Feuchtwanger um 29 Jahre), bestand Grund zur Sorge, daß die „Villa Aurora“ ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Zur Rettung der baufällig gewordenen Villa begründete der Journalist und Feuchtwanger-Biograph Volker Skierka eine Initiative, die von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie von den Medien unterstützt wurde. Der damalige Rowohlt-Verleger Michael Naumann sowie Fritz J. Raddatz, die – wie auch Freimut Duve – zu den ersten Unterstützern dieses Projekts gehörten, brachten das Ziel der Initiative auf die Formel, mit der „Villa Aurora“ eine Art „Villa Massimo am Pazifik“, ein deutsch-amerikanisches Kulturzentrum, zu gründen. In Berlin machte sich die „Pressestiftung Tagesspiegel“ diese Ziele ebenfalls zu eigen, und 1988 vereinigten sich beide Initiativen zum „Kreis der Freunde und Förderer der Villa Aurora e. V.“ In Los Angeles entstand die „Foundation for European-American Relations”. Unter dem Vorsitz des Rechtsanwalts Lothar Poll und seiner Nachfolgerin, der Journalistin Marianne Heuwagen, konnte der Verein 1990 mit finanzieller Hilfe der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und des Auswärtigen Amtes der University of Southern California (USC), die das Feuchtwanger-Vermögen geerbt hatte, die „Villa Aurora“ abkaufen.
Die restaurierte Villa steht heute unter Denkmalschutz. Aus der umfangreichen Bibliothek (Feuchtwangers dritte, die erste fiel in Berlin den Nazis zum Opfer, die zweite in Frankreich ging nach Inhaftierung und Flucht verloren) verblieben 22.000 Bände in der Villa. Die restlichen, besonders wertvollen Bände, bilden in der University of Southern California (USC) die Lion-Feuchtwanger-Memorial-Library. Seit Dezember 1995 führt die „Villa Aurora“ nunmehr ein Stipendiatenprogramm durch. In Anlehnung an die Tradition des interdisziplinären Gesprächs in der Villa werden Künstler unterschiedlicher Disziplin unter einem Dach beherbergt. Der Fotograf Thomas Florschütz, die Komponistin Charlotte Seither, die Filmregisseurin Petra Haffter und viele Schriftsteller waren hier zu Gast. Heiner Müller verbrachte auf Einladung der Getty Foundation einige Monate in der Villa, wo er „Germania 3“ schrieb. Tatsächlich scheint vom einstigen Geist der Villa noch einiges mitzuschwingen: Während meines eigenen Aufenthaltes trafen sich Judaisten, Historiker und Verleger regelmäßig zu „German Film Nights“, um zum Beispiel die Verfilmung von Feuchtwangers Roman „Die Geschwister Oppermann“ (die stark autobiographische Züge enthaltende Beschreibung der zunehmenden Diskriminierung der Juden in Nazideutschland) in den Räumen, die Feuchtwanger zur Rettung dienten, anzusehen. Eine jüdische Schriftstellerin, deren Familie im Holocaust vernichtet wurde, las hier einen bislang unveröffentlichten Text, der sich mit ihrem ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg beschäftigte.
Außerdem vergibt die „Villa Aurora“ (in Zusammenarbeit mit dem Getty Center for the History of Art and Humanities und dem PEN-Center USA West) jährlich ein bis zu zehnmonatiges Aufenthaltsstipendium für einen verfolgten Autor. Mit dem „Writer in Exile“-Programm soll die Erinnerung an jene Zeiten aufrechterhalten werden, als viele Exilierte in Los Angeles Zuflucht fanden. In den USA jedoch heißt dieses Programm nicht „Writer in Exile“, sondern „Feuchtwanger Fellowship“, damit gegenüber der US-Regierung nicht der Verdacht entsteht, daß Exilanten eingeschleust werden, die dann nicht mehr zurück in ihr Land gehen.
„Hier liegt tatsächlich ein Problem,“ erklärt Mechthild Borries-Knopp, die Leiterin des Vereins der „Villa Aurora“ in Berlin, „weil manche so akut verfolgt sind, daß sie anschließend Asyl beantragen müßten.“ Im Fall von Pierre Mumbere Mujomba ist es dem Verein der Villa jedoch gelungen, an einer amerikanischen Universität ein Follow-Up Fellowship zu bekommen. Nach Ablauf von zwei Jahren beantragte der kongolesische Schriftsteller tatsächlich Asyl, aber das war eine Ausnahme. Kunle Ajibade kam, als er nach Nigeria zurückging, erst einmal ins Gefängnis, die pakistanische Theaterregisseurin, Autorin und Amnesty-International-Aktivistin Shahid Nadeem lebt seit ihrer Rückkehr in ihr Heimatland, wie Borries-Knopp vermutet, „wohl ziemlich im Untergrund“. Andererseits sei es in den USA den meisten dennoch klar, daß es sich bei den „Feuchtwanger Fellows“ um verfolgte Schriftsteller handele, weil die Villa mit diesen Schriftstellern viele Veranstaltungen in Kooperation mit Menschenrechtsorganisationen durchführt.
An bürokratischen Hürden vorbei versucht der Verein der „Villa Aurora“ mit großem Engagement und der Hilfe anderer Institutionen, das Programm für Exilschriftsteller kontinuierlich zu realisieren. Doch die finanzielle Situation der Trägerschaft der Luxusvilla, der es oft an Geld für Klempner und andere Grundausgaben mangelte, war lange Zeit nicht unkompliziert: Die Mittel für den Erwerb der „Villa Aurora“, ein großer Teil der Restaurierungs- wie auch der laufenden Betriebskosten wurden von 1995 bis 1998 durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie des Landes Berlin aufgebracht. Einen zusätzlichen Beitrag leistete das Auswärtige Amt. Die Veranstaltungen wie auch das Stipendiatenprogramm werden zunehmend mit Hilfe privater Sponsoren finanziert.
Weil Kalifornien topographisch einen „themepark of risks“ darstellt, mit Erdbeben-, Feuer-, Erdrutsch- und Überflutungsgefahr, ist die Versicherung für die Residenz viel teurer als hierzulande vorstellbar. Allerdings ist es in den USA wesentlich einfacher, Geldgeber für zeitlich befristete, publikumswirksame Projekte zu gewinnen als für die weniger Charisma verbreitenden Zahlungen laufender Grundkosten. Einige Amerikaner empfinden es zudem als Verpflichtung Deutschlands, die „Villa Aurora“ finanziell zu tragen, und manchmal mußte Joachim Bernauer, der ehemalige Direktor der „Villa Aurora“, sogar feststellen, daß antisemitische Vorurteile oder hartnäckige Abneigung gegen den „Kommunisten Feuchtwanger“ einen potentiellen Sponsor von einer Unterstützung abhielten. Auch das Mißverständnis, die Villa sei nach dem russischen Panzerkreuzer „Aurora“ benannt worden, tauchte auf – Gründe, die man in frohgemuter Erwartung zahlungskräftiger amerikanischer Sponsoren im fernen Deutschland nicht vorausgeahnt hat. Zudem besteht nach Bernauers Meinung in Deutschland nach wie vor ein „schräges Bild“ vom „erfolgreichen Modell Kultursponsoring“ der USA Touristenattraktionen wie das „Museum of Modern Art“ in New York gelten als leuchtende Vorbilder; dabei wird übersehen, daß jeden Tag Kultureinrichtungen, die größer sind als die „Villa Aurora“, geschlossen werden müssen. Trotzdem hat das Team der Villa, wie Bernauer schmunzelnd anfügt, „nicht vor, einen ‚Lion-und-Marta-Shop’ mit Schlüsselanhängern, Kühlschrank-Stickern und T-Shirts aufzumachen“.
Inzwischen hat sich das Auswärtige Amt verpflichtet, für den Erhalt des Anwesens aufzukommen. Vielleicht war der plötzliche Erdrutsch, der unlängst eine Nachbarvilla den Hang hinunter beförderte, dafür mitausschlaggebend. Auch lassen neue Konflikte zwischen „old europe“ und „new world“ die Wichtigkeit des Erhalts der „Villa Aurora“ außer Frage stehen.
Gern sähe man auch amerikanische Stipendiaten in der Villa – der Anspruch, eine „deutsch-amerikanische Begegnungsstätte“ zu sein, würde sich damit viel nachhaltiger einlösen, aber bis zu diesem Tag muß die Sonne wohl noch einige Male leuchtendrot über den Pelikanen, den Surfern, den Cabriofahrern und den im Garten lesenden Stipendiaten aufgehen.