veröffentlicht auf ZEIT Online, Februar 2015
Bisher empfinden wir uns besonders dann als Europäer, wenn wir uns von anderen abgrenzen. Wir brauchen eine positive europäische Identität – die Migranten einschließt.
Erinnern wir uns nur an die peinliche Leitkultur-Debatte. Sie hat es Migranten nicht leicht gemacht, sich diesem merkwürdigen, sich ständig selbst spiegelnden Goethe-und-Dieter-Bohlen-Land in der Mitte Europas zugehörig zu fühlen. Dabei wurden Trennlinien zwischen Christen und Muslimen gezogen, ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile fast die Hälfte der Menschen keiner der beiden großen christlichen Kirchen angehört. In Berlin leben mehr Muslime als Katholiken.
Nicht nur Ablehnung und Unkenntnis, sondern auch große Unsicherheit kommt hier zum Vorschein: Die Aussage „Zuwanderer, die hier leben, bedrohen meine persönliche Lebensweise und meine Werte“ stößt bei vielen Europäern auf Zustimmung, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie (Die Abwertung der Anderen) der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) belegt. Das Ergebnis der FES-Studie: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Vorurteile gegenüber als „fremd“ oder „anders“ Empfundenen, ist in Europa weit verbreitet. In den Niederlanden stießen die abwertenden Aussagen auf die niedrigsten Zustimmungswerte, in Polen und Ungarn auf die höchsten. Für Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit und Rassismus ermittelt die FES-Studie nur geringfügige Unterschiede zwischen den Ländern: „Rund die Hälfte aller europäischen Befragten ist der Ansicht, es gebe zu viele Zuwanderer in ihrem Land“, heißt es in der Studie.
Einwanderung ökonomisch unvermeidlich
Dabei ist Immigration nicht nur ein kultureller Gewinn für Deutschland und Europa – sie ist ökonomisch unvermeidlich, was inzwischen auch viele Politiker bestätigen. So konstatierte Olaf Gersemann in seinem Buch Die Deutschland-Blase. Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation, dass Deutschland pro Jahr 400.000 Zuwanderer aufnehmen müsse, um seine Bevölkerungszahl stabil halten zu können.
Transnationale Identität schließt Herkunftsidentität nicht aus
Viele Menschen beklagen zwar, dass die Binnenkräfte, die Europa zusammenhalten, vor allem ökonomischer Natur seien. Sie haben aber, nach ihrem Identitätsverständnis von Europa befragt, selber wenig zu bieten. Dass die Europäer sich schwer damit tun, eine europäische Identität festzulegen, ist verständlich. Zu viele Einflüsse haben historisch den Kontinent geprägt.
Der Kontinent war zwar schon immer geprägt von regem Handel und Austausch – aber auch von vielen Kriegen. Es gibt keine Region in der Welt, in der so viele von der Fläche her kleine Länder eng beieinanderliegen und keine, deren Geographie so kleinteilig und ineinandergreifend ist. Europa müsste sich jetzt auf seinen Platz in der Welt als Drehkreuz zwischen Ost und West berufen.
Denn Europa kann sich eigentlich nur als regen Marktplatz der Welt, als Vielvölkerstaat mit zahllosen kulturellen, linguistischen und ökonomischen Verbindungen zur außereuropäischen Welt verstehen. Der Europäer ist, wenn er diese Offenheit zulässt, qua Geburt ein Multikulturalist. Es war der kürzlich verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck, der als einer der ersten den Europäer als Kosmopolit gedacht hat. Doch für Beck bedeutete Europa nicht das Ende der alten Nationalstaaten. Das neue Europa könne vielmehr das alte in sich bergen und zugleich sanft verändern.
Das eine – die transnationale Identität – schließt nämlich das andere – die Herkunftsidentität – nicht aus. Mit dieser Einsicht können wir die große Angst vor einem transnationalen Identitätsbegriff besiegen, die in vielen Regionen Europas geschürt wird, erst recht vor einem, der außereuropäische Fremde miteinschließt. Die Angst ist verständlich, denn es scheint zunächst schwer vorstellbar, dass die Erweiterung eines Identitätsbegriffs nicht gleichzeitig einem Verlust an anderer Stelle gleichkommt.
Berlinerin, Atheistin, Europäerin
Unsere Aufgabe ist es deshalb, einen facettenreichen, multidimensionalen Identitätsbegriff zu etablieren. Einer Identität, die sich gleichwertig aus einem nahen Herkunftsbereich („Berlinerin“) speist, einer soziokulturellen und religiösen Zugehörigkeit („atheistische Schriftstellerin“) und einem geographisch weitergefassten Bereich („Zugehörigkeit zu einem sich als heterogenes Staatengebilde verstehenden Europa“). Was bislang eher als exkludierend empfunden wurde, könnte in Zukunft integrierend verstanden werden. Wenn europäische Bürger sagen: Ich stamme aus einem Kontinent, in dem ich nicht nur jeden Tag Deutsch höre, nicht nur Nachbarn mit meiner Hautfarbe habe. Zu meiner Identität gehört es dazu, mehrere Sprachen zu sprechen und viele Sprachen ein wenig zu verstehen.
Ich lebe in einem Kontinent, der sich dem keineswegs toten, sondern von 500 Millionen Menschen täglich gelebten Multikulturalismus verschrieben hat.
© Tanja Dückers, im Februar 2015