ZEIT Online, 24. November 2010
Proteste finden nur regional oder thematisch begrenzt statt. Die Deutschen ertragen ansonsten stoisch jede sozialpolitische Grausamkeit ihrer Regierung.
Seitdem sich ausgerechnet die bislang so kreuzbraven Schwaben um ihren Bahnhof scharen, wird plötzlich von einer neuen Protestkultur in Deutschland gesprochen, gar von einer „Dagegen-Republik“. Herrschen etwa französische, griechische Verhältnisse zwischen Elbe und Alpen? Wohl kaum. Die Proteste treten nach wie vor eher am Rande einer allgemeinen Stillhalte- und Mitmachkultur zwischen den überzähligen Vertretern einer lethargisch-apolitischen Dafür-Republik auf.
Dennoch richtet sich der Unmut der meisten Bürger nicht gegen die Regierung, sondern nach innen – statt kollektiven Aufbegehrens versucht die Mehrzahl, ihre eigene Situation so gut wie möglich zu verbessern, mehr zu arbeiten, weniger auszugeben, „den Gürtel enger zu schnallen“, trägt also den Kurs der Regierung. In kaum einem Land in Europa gibt es weniger Streiktage, erträgt die Bevölkerung anscheinend stoisch jede noch so gravierende sozialpolitische Grausamkeit ihrer Regierung wie hierzulande. Die Arbeits- und Sozialpolitik der letzten Jahre, die haarsträubende Gesundheitsreform, die Rente mit 67 konnten ohne nennenswerten Protest durchgesetzt werden.
Die deutsche Telefonseelsorge, 1956 in Berlin von einem Anglikaner als Suizidprävention ins Leben gerufen, ist seit Jahrzehnten ein Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung. Jährlich gehen zwei Millionen Anrufe bei der Telefonseelsorge ein. Umso erstaunlicher sei es, dass heute nur noch in drei Prozent aller Gespräche wirtschaftliche Fragen thematisiert würden. „Die Menschen resignieren“, sagt ein Telefonseelsorger. „Sie scheinen zunehmend zu denken: ‚Ich kann’s ja doch nicht ändern’“. So wie die „Humanisierung“ der Arbeit, ein soziologisches Schlagwort, von sich reden machte, und mit ihr die Kultur der Eigenverantwortlichkeit in die Abteilungen Einzug hielt (beispielsweise mit an Leistung gekoppelten Honoraren), so meinen Arbeitnehmer auch zunehmend, an einem Misserfolg oder Arbeitsplatzverlust nur selbst Schuld zu tragen – und gegen sich selbst zieht niemand auf die Straße.
Nur an Großprojekten wie Stuttgart 21 oder den Castor-Transporten entzündet sich dann die angestaute Wut, weil sich hier die Schuldigen leicht finden lassen und der „Feind“ klar benennbar ist. Die unübersichtlichen, aber mindestens so skandalösen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik setzen viel mehr Kenntnisse voraus, als der Normalbürger meist besitzt.
In den beiden Fällen – Stuttgart 21 und Castor-Transporte – gehören die Gegner zu einer abgehobenen Elite aus Technokraten, die sich als Vertreter eines wirtschaftlichen Sachzwangs verstehen: Es geht um klar definierte Interessen, um wirtschaftliche Akteure, die ihr Anliegen scheinbar über das Allgemeinwohl stellen. Der Gegner erscheint in diesen Fällen greifbar, konkret. Das „Böse“ lässt sich personell oder symbolisch lokalisieren. Ein Bahnhofsgebäude oder ein Castor-Transport bieten sich in ihrer dinghaften Präsenz sehr gut dafür an.
Die von den Medien ebenso sensationslüstern wie hysterisch ausgerufene „Dagegen-Republik“ hat sich bisher also gegen spezifische, meist geographisch und inhaltlich klar umrahmte Einzelprojekte gerichtet – von Autobahn- und Flughafenbau bis zum Spreeufer und zur Hamburger Schulpolitik –, eben nicht gegen die Regierung und ihre Politik in einem umfassenderen Sinne. Es gibt im Moment einen radikalen Individualismus und Regionalismus im Dagegensein. Schon einen Münchener interessiert Stuttgart 21 nur am Rande. Und das Wendland ist auch eine Insel für sich. In Zeiten der EU und der Globalisierung, und noch dazu mit einer technokratischen, schwerfälligen, wenig greifbaren, ebenso omni- wie nicht präsenten Regierung, die die Lage klamm verteidigt, wehrt sich der Bürger hierzulande lieber nur vor seiner Haustür.
Und wenn nicht regionalistisch protestiert wird, dann themenspezifisch: Hier für oder gegen die Ampelkennzeichnung, dort für oder gegen Pendlerpauschalen oder LKW-Maut – die Gegner und Verteidiger derzeitiger Streitpunkte haben oft wenig Berührungspunkte, jeder bleibt vor seiner geistigen Haustür.
Die Frage ist auch: Wer demonstriert im Moment eigentlich, wer wehrt sich in Deutschland? Wissenschaftler vom Göttinger Institut für Demokratieforschung haben eine Untersuchung durchgeführt, um mehr über die soziale Zusammensetzung der Stuttgart-21-Gegner herauszufinden. Das Ergebnis: Etwa 42 Prozent der Demonstranten verfügen über einen Hochschulabschluss, gut 70 Prozent von ihnen haben Abitur. Beinahe die Hälfte der Teilnehmer an den Stuttgarter Aktionen gegen das Bahnprojekt ist älter als 45 Jahre. Die Mehrheit ist gut situiert, gebildet und demo-erfahren. Es sind Alt-68er, derzeit gern als „Generation Joschka“ tituliert, zum Teil schon Pensionäre, die sich auf die Straße begeben.
Der Journalist Georg Seßlen vertritt die Theorie, dass im Stuttgart 21-Konflikt eine privilegierte Schicht gegen eine andere privilegierte Schicht antritt. Unter den Gegnern finden sich vor allem die „Vertreter eines alten, von Besitz, Kultur, Bildung und bürgerlicher Liberalität geprägten Bürgertums“, die „Vertretern eines neuen Bürgertums gegenübertreten, das für Effizienz, Populismus und Technologie steht“. Gegenüber den Göttinger Forschern taten die S21-Gegner mit großer Mehrheit kund, dass sie mit ihrer persönlichen Situation außerordentlich zufrieden seien, zugleich äußerten sie massives Unbehagen mit der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Verfasstheit der Republik.
Doch wo bleibt der Protest derjenigen, die mit ihrer persönlichen Situation nicht „außerordentlich zufrieden“ sind? Und hier zeigt sich folgendes Paradoxon: Diejenigen hingegen, die eigentlich am stärksten von den sozioökonomischen Missständen betroffen sind, machen wenig von sich reden. Es sind zwar bei den Protesten in Stuttgart und im Wendland auch viele junge Demonstranten zu sehen, doch die 25 – 55-Jährigen sind kaum beteiligt. Anders als die gebildeten, gut situierten Rentner haben sie offenbar keine Zeit für Demonstrationen.
Früher waren politisch Aktive in viel stärkerem Maße parteipolitisch gebunden. Doch die großen Volksparteien leiden seit Mitte der neunzigerr Jahre unter akutem Mitgliederschwund. Kurz nach dem Mauerfall verzeichnete die CDU ihr Rekordergebnis mit damals noch 750.000 Mitgliedern, heute hat sie nur noch um die 517.000 Mitglieder. Die SPD verlor seit 1976, als sie zeitweise mehr als eine Million Mitglieder zählte, nahezu die Hälfte der Genossen. Die Zahl der Unter-29-Jährigen bewegt sich jeweils um die 5 Prozent. Nicht alle verlieren im gleichen Maße Mitglieder wie die Volksparteien. Die Grünen (49.054Mitglieder) und Die Linke (78.500 Mitglieder) meldeten jüngst sogar leichte Zuwächse.
„Die Mitgliedschaft, früher eine Herzensangelegenheit, ist inzwischen zu etwas Opportunem geworden“, sagt der Göttinger Parteienforscher Peter Lösche. Es fehle gegenwärtig an „etwas, was in die Richtung einer Vision geht“. Vor 30, 40 Jahren war das noch anders. Die CDU speiste sich aus dem politischen Katholizismus, die SPD verfolgte die Idee eines demokratischen Sozialismus. Beide große Volksparteien standen klar erkennbar für eine Mentalität und einen Habitus, vertraten bestimmte Berufsgruppen und Milieus. „Heute sind diese Milieus erodiert. Sie sind historisch vergangen“, konstatiert der Parteienforscher.
Parteipolitisches Engagement brachte jedoch den Vorteil mit sich, dass das politische Interesse und gegebenenfalls auch der Protest der Aktiven meist über eine einzelne Debatte hinausgingen. Heute finden sich viele Netzwerke nur projektbezogen zueinander. Sie zerfallen, so bald der Anlass nichtig geworden ist. Die vielen losen Interessens- und Protestplattformen neutralisieren sich außerdem in der öffentlichen Wahrnehmung zum Teil selbst durch ihre schiere Zahl und ihre Kurzlebigkeit. Immerhin die Anti-Atom-Bewegung profitiert von der Langlebigkeit ihres Anliegens. Sie verteidigt, durchaus mit einigen jüngeren Mitstreitern in ihren Reihen, seit Jahrzehnten ein bekanntes Unterfangen und muss nicht erst mit Handzetteln und in Online-Foren erklären, wer sie überhaupt ist.
Die Formen des Protests haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren, nach der Wende, stark diversifiziert. Es tauchten viele kreative Ideen, gerade im Bereich der Neuen Medien, auf – doch es fehlt an gemeinsamen Großprojekten, an Interessensbündelungen und an politischen Alternativen. Es wäre wünschenswert, dass nicht nur jeweils eklektizistische Grüppchen solitär dieses oder jenes Projekt hier oder dort anprangern, sondern größere Bevölkerungsgruppen gemeinsam antreten. Das ist aber immer weniger in Sicht. Gut möglich, dass wir es in Zukunft mit einer Vielzahl von Protesten gegen sogenannte Großprojekte zu tun haben werden. Erst am vergangenen Wochenende lehnte der Parteitag der Grünen die Bewerbung für die Olympiade in München ab. Daraus wird aber noch lange keine „Dagegen-Republik“. Es ist vielmehr der Preis dafür, dass vieles so weitergehen kann wie bisher.