Die Welt, 5. August 2005
Eine Startbahn, gesäumt von verrosteten Autokarossen, ein Hangar, in dem alte Spielautomaten und dreckige LKW stehen, ein Mini-Museum, nicht größer als eine Dreiraumwohnung – das ist der Ort, an dem das „Enola Gay“-Projekt, der Abwurf der beiden amerikanischen Atombomben, unter strengster Geheimhaltung vorbereitet wurde. Keine Gedenktafel, kein Hinweis auf die Opfer, auf die Folgen des Atombombenabwurfs, bei dem 220.000 Menschen starben, findet sich hier.
Auch sechzig Jahre nach dem fatalen Abwurf der gefährlichsten Waffe, die die Menschheit bisher produziert hat, ist das Städtchen Wendover, das auf der Grenze zwischen Utah und Nevada liegt, wie eh und je verschlafen. Nur 10.000 Einwohner hat der Ort, der Spielzeugflughafen wird von einem „Control Tower“ aus überwacht, der zu dem selben Häuschen gehört, in dem die „Abfertigungshalle“ und das kleine Museum untergebracht sind. 1940 wurde der Flughafen gebaut, heute wird er nur noch gelegentlich – zivil und militärisch – genutzt. Während wir einen dünnen lauwarmen Kaffee trinken, sehen wir, wie eine F16 startet und eine Privatmaschine landet. Heute scheint ein betriebsamer Tag zu sein.
Derweil hat sich ein munterer Trupp Rentner mit Baseballcaps ins „Wendover Historic Airfield Museum“ verirrt; sie kommen aus Las Vegas und wollen nach drei Tagen Spielen und gutem Essen noch etwas für ihre Bildung tun. Denn im Museum von Wendover zelebriert man die Bombenverladung. Die Hauptattraktion ist eine Attrappe der Bombe „Little Boy“, die der damalige Pilot Paul W. Tibbets handsigniert hat. Tibbets galt während des Zweiten Weltkrieges als einer der besten Bomberpiloten der USA. Er hatte Dutzende von Einsätzen über Deutschland geflogen und danach den neuen Riesenbomber B-29 getestet. Im Herbst 1944 erhielt er den Auftrag, eine Spezialeinheit zusammenzustellen. Auf dem „Wendover Air Field“ übte die Einheit unter völliger Geheimhaltung den Abwurf unförmiger großer Bomben. Nur Tibbets wußte, daß es sich im Ernstfall um eine Atombombe handeln würde.
Ehrfürchtig betrachtet das Grüppchen die Attrappe – eine beleibte Dame tätschelt den Nachbau wie einen drolligen Hund. In einem Museumsraum wurde die Senke nachgebaut, aus der „Little Boy“ und „Fat Man“ mit Rampen in die Flugzeuge verladen wurden. Das „Atomic Bomb Loading Pit“ kann der geneigte Besucher auch heute noch im Original auf dem „Wendover Air Field“ besichtigen. Es ist eine „historical site“ für viele Amerikaner. Im Museum ist die Nachbildung dieser unspektakulären Senke mit einem Hörspiel aufgepeppt worden: Stimmen von Männern, die die Bombe verladen, sind darauf zu hören. An Zynismus ist diese Klang-Installation nicht zu überbieten: „Lift that Little Boy … lift that baby into the cradle …“, „Easy, easy, everything’s fine“, rufen sich die Männer fröhlich zu.
Was den Wendovern und den Besuchern des Museums natürlich fehlt, ist, wie uns erklärt wird, das Flugzeug, das damals „Little Boy“ transportierte. Es steht heute in Washington D.C. im „Air and Space Museum“. Sein Name ist „Enola Gay“. Enola war der Name der Mutter des Piloten, und „gay“, fröhlich, soll sie gewesen sein. Den Amerikanern ist „Enola Gay“ so wichtig, daß sie dieses bedeutende Objekt der Luftfahrt nicht in einem Kaff wie Wendover ausstellen wollten. Schließlich sollen Besucher aus aller Welt die Möglichkeit haben, dieses Symbol amerikanischer Wehrhaftigkeit in Augenschein nehmen zu können – und wer fährt schon extra ins Niemandsland? Außer ein paar Zockern aus Nevada verirrt sich kaum einer hierhin. Und im Washingtoner Museum wurde extra eine neue Halle für „Enola Gay“ gebaut.
Auch jenseits des Museums erinnert nichts an das Höllenlabor und an die Tests des Grauens: Auf einem Zubringer zur Startbahn von „Enola Gay“ finden Autorennen statt. Als wir in Wendover sind, haben sich gerade zwei rivalisierende Heavy-Metal-Crews eingefunden, um mit den verrostetsten Autos, die ich in meinem Leben gesehen habe, gegeneinander anzutreten. Sie rammen sich auf der Fahrbahn und bewerfen sich mit Getränkedosen. Blondierte Girls stehen winkend, anfeuernd und kreischend am Rand – bei 40 Grad im Schatten in voller Lederkluft. Dann ohrenbetäubender Lärm: Ungerührt vom Autorennen startet ein Privatjet nur ein paar Meter weiter auf einer anderen Startbahn. Ein Hund mit funkelndem Kettenhalsband springt der Maschine eine Zeitlang hinterher.
Auch der ehemalige Hangar wird derweil fleißig genutzt. Einige Kasinobesitzer stellen in der Halle Spielautomaten unter, mehrere Salzabbau-Firmen ihre Trucks. Wieder keine Hinweistafel, kein Schild, nichts. Ab und zu finden Rock-Konzerte in der düsteren Halle statt. Dann kommt die Jugend Wendovers, um dem Wüstenrock zu frönen und sich die bloßen Füße wund zu tanzen. Berührungsängste mit dem Heimatdörfchen der Atombomben hat hier wirklich niemand.
Wendover ist eine geteilte Stadt. Daß sie sowohl in Utah als auch in Nevada liegt, hat große Unterschiede in der Rechtssprechung und ein dramatisches Wohlstandsgefälle hervorgebracht. Der Westen ist wohlhabend und dekadent und der Osten heruntergekommen und bettelarm. Hier wohnen die Leute in Wohnwagen, Motor Homes genannt. Im Westen – in Nevada – sind die Steuereinnahmen durch die Spielkasinos hoch, und die Stadt ist von hübschen Holzhäusern, Pools und Garagen geprägt. Der Kontrast zwischen West- und Ost-Wendover ist frappierend.
Gigantische Mülldeponien, Schrottverkaufsareale, deren Bestände sich ins Unermeßliche auszudehnen scheinen, und ausrangierte Filmkulissen, die Hollywood einfach in der Wüste geparkt hat, säumen den Ort.
Wie leben die Einwohner von Wendover mit der furchtbaren Geschichte ihres Heimatstädtchens? Wir befragen verschiedene Menschen und erhalten die immer gleiche Antwort: „Hier ist man stolz auf ‚Little Boy’ und ‚Fat Man’“. „Wir haben unseren Teil zum Kriegsende beigetragen“, sagt Antonia, die Kartenabreißerin für das nächste Konzert im Atombomben-Hangar. „Wir hier im Westen brauchen nicht zu denen an der Ostküste aufzuschauen … wir haben hier Helden hervorgebracht“, sagt Dave, der mit seinem LKW unterwegs ist und in Wendover übernachtet.
Die Überzeugung, Nationalhelden hervorgebracht zu haben, wird in Wendover nicht in Frage gestellt. Das gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart: Wir erfahren, daß in der South Base, im südlichen Wendover, jetzt Anti-Terror-Trainings stattfinden. „Und nicht zu knapp!“ behauptet ein alter Herr, der sich die Signatur des Piloten auf der Bombenattrappe sehr lange mit einer Lupe anschaut.
Aber es gibt auch andere Stimmen in den USA, die sich einen kritischeren Umgang mit dem Wendover Air Field und seiner Geschichte wünschen: Das sogenannte „Center for Land Use Interpretation“, kurz CLUI, mit Sitz in Los Angeles und Filialen in Barstow und New York, beschäftigt sich seit Jahren mit „Un-Orten“, mit dem „backspace of America“: mit der Nutzung der riesigen Wüstenareale im Südwesten, mit Industriegebieten, Gefängnissen, Militäranlagen, Müllhalden, Land Art-Objekten, Windanlagen und so weiter. CLUI dokumentiert diese Orte und gibt Künstlern, die sich mit dieser bizarren Umgebung beschäftigen wollen, die Möglichkeit, hier eine Zeitlang kostenlos leben und arbeiten zu können.
In Wendover hat CLUI einen Wohnwagen eingerichtet, in dem schon Künstler aus aller Welt gearbeitet haben. Zur Zeit ist die junge amerikanische Künstlergruppe „Simparc“ – was für „simple architecture“ steht – damit beschäftigt, eine ehemals militärisch genutzte Baracke aus dem Zweiten Weltkrieg umzugestalten und ihr eine neue Funktion zuzuweisen.
Im Gegensatz zur allgemeinen Wegwerfmentalität, wofür die „Nutzung“ der Wüste einschlägige Beispiele liefert, streben die Künstler keinen Abriß und keine Unkenntlichkeit des Ortes an, sondern eine Umfunktionierung der vorgegebenen Situation – unter Berücksichtigung der amerikanischen Geschichte.
Neben diesen artists in residence hat jedoch auch schon „the industry“ den Weg nach Wendover gefunden. Mit „the industry“ wird im Südwesten einfach die Filmindustrie bezeichnet. Jeder versteht das. Die Industrie jedenfalls hat die abgewrackte Militäranlage und die abweisend-heroische Landschaft in der Umgebung Wendovers für sich entdeckt und eine Reihe sehr bekannt gewordener Filme wie „Independence Day“, „The Incredible Hulk“ und „Con Air“ hier gedreht. Es sind nicht irgendwelche Filme, die in Wendover realisiert wurden, sondern stets Geschichten, in denen entweder Aliens oder andere unheimliche Wesen und Mächte am Werk sind – Filme, in denen die heile amerikanische Welt bedroht wird.