ZEIT Online, 2. August 2010
Loveparade, Elbphilharmonie: Scheinbar um jeden Preis inszeniert die Politik prestigeträchtige Kulturprojekte. Kulturpolitik wird zur Standortpolitik. Das kann nicht funktionieren.
In den vergangenen Jahren hat sich der Konkurrenzkampf gerade zwischen den Städten mittlerer Größe in Deutschland verschärft. Für viele Kommunen, auch und gerade im Ruhrgebiet, ist die Situation dramatisch. Sie sind so hoch verschuldet, dass sie Schwimmbäder schließen und die Straßenbeleuchtung reduzieren. Jetzt müssen sie sich neu erfinden, wie die beliebte Floskel bei Stadtplanern heißt, und eher gestern als heute ökonomische Ressourcen erschließen.
Das Motto gilt auch anderswo – eigentlich überall, wo strukturschwache Gebiete um den Anschluss kämpfen und Kultur-Hochburgen ihre Pfründe verteidigen wollen. Die regionalen Wirtschaftsförderer scheinen sich alle an die Prognose des amerikanischen Ökonomen Richard Florida vom Aufstieg der „Creative Class“ (2002) zu klammern. „Können altindustrialisierte Städte zu ‚Hot Spots‘ der Kreativwirtschaft werden?“ fragt man sich auf dem Portal Kreatives Leipzig. Für die Hamburger Kultursenatorin wiederum gehört die Kreativwirtschaft zu den wichtigsten Wachstumsbranchen. Dem schärfer werdenden Standortwettbewerb wolle die Hansestadt jetzt mit systematischer Förderung begegnen.
Derzeit gibt es viele Beispiele – das Desaster der Loveparade in Duisburg, auf der 21 Menschen starben, ist jedoch das Schlimmste – für die hohen Risiken und zu großen Hoffnungen, die Stadtverwaltungen in Kultur-Prestigeobjekte setzen. Die Hamburger Elbphilharmonie ist auch so ein ehrgeiziges Projekt, an dem sich die Stadt überhoben hat – die Kosten sind nämlich dreimal so hoch wie anfänglich projektiert. Die Endlosdebatte um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses ein anderes.
Kulturpolitik ist zur Standortpolitik mutiert. Sie ist längst kein „weicher“ Faktor mehr – die Bundesregierung deklariert die „Kultur- und Kreativwirtschaft“ zur Wachstumsbranche schlechthin. Mit einer Bruttowertschöpfung von 63 Milliarden Euro und einer Million Beschäftigten im Jahr 2008. „Ihr Bruttoinlandsprodukt von 2,6 Prozent ist höher als das der chemischen Industrie“, rechnet Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) vor.
Angesichts der riesigen Erwartungen, die mit dem „Wandel durch Kultur“ verbunden sind, erhält der Kulturbegriff eine schon fast religiöse Aura. Die Kultur soll eo ipso liefern, was den darbenden Kommunen und Regionen fehlt: Inspirationen und Arbeitsplätze, Lebensfreude und unternehmungslustige junge Menschen. Sie soll retten, Identität und Sinn stiften.
Doch zugleich wird sie mit betriebswirtschaftlichem Kalkül inszeniert. Damit wir ein Kulturbegriff geschaffen, der einen eklatanten Widerspruch in sich trägt. Denn: Kultur geht ihre eigenen Wege und passt ihr Image nicht den jeweiligen Wünschen der Regierenden an, die sich den „erfolgreichen Wandel des Ruhrgebiets“ letztendlich an ihre eigene Brust heften wollen.
Dem Gedanken, Kultur solle einen Imagewechsel befördern, haftet eine feste Vorstellung davon an, wie diese Kultur denn auszusehen habe: optimistisch, jung, fröhlich. Darum sollte ja auch die Loveparade entsprechende Fernsehbilder liefern. Eben andere als: Sterbende Zechen, aus der Region ziehende junge Menschen, Arbeitslosigkeit. Aber kreative Tätigkeit ist per se ein ergebnisoffener Prozess, sie entsteht oft in einem chaotischen, ungeplanten Moment. Von den 150 Teilnehmern der ersten Loveparade, die 1989, noch vor dem Mauerfall, unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“, (ein Motto, das in der geteilten Stadt, dem Symbol des Kalten Krieges schlechthin, eine ganz eigene Bedeutung hatte), über den Berliner Ku’damm zogen und einen neuen, körperbetonten und radikal-minimalistischen Musikstil zelebrierten, hatte wohl niemand damit gerechnet, dass ein paar Jahre später daraus die größte Party der Welt entstehen würde.
Kultur kann keinen Imagewechsel herbeizaubern, sondern ist, in ihrer originären Ausprägung, eher selbst ein Produkt des Identitätswandels. Erst finden Veränderungen statt, dann zeigt die Kunst wie ein Seismograph diese auf. Der Anspruch einer marktkonformen Kreativwirtschaft geht genau den umgekehrten Weg. Hier ist das Ergebnis bereits schon von den Stadtverwaltern definiert, bevor die Party überhaupt beginnt. Damit wird aber das eigentliche kreative Potenzial, dass gerade auch in Regionen wie dem Ruhrgebiet vorhanden ist, erstickt.
Während in Duisburg in den letzten Jahren Gelder für Museen, Theater und Volkshochschulen gestrichen wurden, also Kultur in ihrer bürgernahen und regionalen Variante zweitklassig behandelt wurde, wurde auf Kultur als Mega-Spektakel gesetzt. Dazu passt, dass der Hauptakteur der Duisburger Loveparade der Gründer einer Billig-Fitness-Kette ist. Kreativität und Kultur werden damit zu einer Ware, von der alle profitieren wollen: Die Stadtverwaltung, weil sie sich ein neues Images verspricht, der Sponsor, der damit neue Kunden akquirieren will.
Über das megalomane Unterfangen kann man sich insgesamt nur wundern: Eine derart große Agglomeration wie das Ruhrgebiet kann man nicht per Beschluss, von staatlicher Seite her, in ihrem Charakter, ihrer Identität, umpolen. Das ist anmaßend und, was den Bürger betrifft, bevormundend und führt in vielerlei Hinsicht – nicht nur unter dem Aspekt der Sicherheit – zu eklatanten Fehlentscheidungen wie der, die Loveparade nach Duisburg holen zu wollen.