veröffentlicht in Jungle World, 12. April 2004
Die 4. Berlin Biennale funktioniert wie eine Führung durch die Stadt. Die künstlerischen Positionen verkommen zur Nebensache.
Auf der 4. Berlin Biennale wird einmal mehr der Berlin-ist-so-schön-kaputt-Charme bemüht. Die Ausstellung präsentiert sich an zwölf Orten entlang der Auguststraße in Mitte; der Besucher wird durch eine Reihe nostalgischer Räume geführt, darunter die St. Johannes-Evangelist-Kirche, der Spiegelsaal im Ballhaus Mitte, die Pferdeställe des Postfuhramtes, ein Keller, mehrere Privatwohnungen und der Alte Garnisonsfriedhof. Die meisten Werke sind in den Ausstellungsräumen der Kunstwerke und in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule zu sehen.
Wer meinte, die Auguststraße oder das Scheunenviertel gut zu kennen, wird staunen, welche malerischen Orte hier noch zu entdecken sind. Es ist schon verwunderlich, über welch großen Zeitraum hier schon Ruinen und schicke Schnickschnack-Läden und Edel-Galerien koexistieren. Man wähnte Berlin-Mitte schon ruinenfrei – ein schöner Irrtum. Aber was erfahren wir auf der Berlin Biennale über die Kunst selbst? Welche Positionen werden hier vorgeführt? Was ist der »kuratorische Wille«?
»Von Mäusen und Menschen« klingt geheimnisvoll, aber auch beliebig. Der Titel ist John Steinbecks Roman von 1937, »Of Mice and Men«, entliehen. Ebenso vage erklärt das zurzeit in New York ansässige hippe und von der New York Times auch noch als »fashionable« bezeichnete Kuratoren-Trio Maurizio Cattelan, Ali Subotnick und Massimilliano Gioni, es würde sich alles irgendwie um »Geburt« und »Tod«, »Verlust«, »Trauer« und »Nostalgie« drehen. Eine ziemliche Nullaussage. Existenzielle Themen gelten nach den Anschlägen auf das World Trade Center als trendy. Die drei Kuratoren, die die Wrong Gallery in New York leiten, wollten sich wohl von den Spaßeskapaden, für die insbesondere der Künstler Maurizio Catellan berüchtigt war, lossagen. Entsprechend plakativ fallen viele Arbeiten dann doch aus. Großformatige Fotos von einer sexy Frau, die gebiert: Blut, Schleim, Kindskopf. Noch einmal der Sechziger-Jahre-Gestus: »Zeig es mir! Zeig mir alles!«
Der Spiegelsaal im Alten Ballhaus ist ein magischer Ort, meterhohe zerbrochene, matte Spiegel, schwerer, halb zerstörter Stuck, ein Raum, der zwei Weltkriege überstanden hat und sichtbar von Geschichte zeugt. Nur die beiden am Boden herumhumpelnden Performance-Künstler wirken überflüssig. Die Blicke der Besucher gleiten dementsprechend eher an die Decke als auf das Parkett, wo die bemitleidenswerten Tänzer versuchen, diesem Saal, der beim besten Willen keine »künstlerische Zutat« nötig hat, noch ein I-Tüpfelchen aufzusetzen.
Ein ebenso faszinierender, melancholisch stimmender Ausstellungsort ist die ehemalige Jüdische Mädchenschule. Auch hier ertappt sich der Besucher dabei, den alten Inschriften aus der DDR-Zeit, »Pionierfreundschaft« und »Berufsberatung«, sowie den zahlreichen Spuren des mal leid-, mal freudvollen Schülerinnendaseins mehr Beachtung zu schenken als der von der ganzen Aura des Ortes marginalisierten Kunst. Bedarf ein altes Klassenzimmer noch Tadeusz Kantors »Schulbank«? Dem Großmeister der zeitgenössischen polnischen Kunst nach 1945 ist damit ebenso wenig ein Gefallen getan wie dem amerikanischen Künstler Christopher Knowles mit seinen auf der Schreibmaschine getippten, spielerisch-absurden Wortreihungen, die an den Wänden des Klassenzimmers eine ganz andere Bedeutung gewinnen als in einem eher neutralen Ausstellungsraum.
In jedem Fall unterschiedet sich diese Biennale von den vorangegangenen. Dort waren zumeist zu viele Texte zu lesen und zu viele »Panels« zu besuchen. Dieses Mal hat man versucht, Kunst nicht in erster Linie als Erkenntnisvehikel zu gebrauchen, sondern sie zu inszenieren. Es entsteht der Eindruck, dass die Kuratoren eher wie Bühnenausstatter gearbeitet haben. Mal stößt man auf einen ehemaligen Physikraum, mal auf ein Video über Atombombentests, auf dem Friedhof klimpert eine Klanginstallation in den Bäumen, eine Skulptur der Belgierin Berlinde De Bruyckere mit dem Titel »Lichaam«, was auf Deutsch nicht Leiche, sondern Körper bedeutet – alles ist malerisch zusammengestellt wie auf einer Bühne. Manche Kritiker sind begeistert von dieser moviehaften Biennale, die anderen vermissen wirklich aufregende neue Kunst, die mehr kann, als sich nur einem Ort unterzuordnen; Kunst, die gesehen und nicht eher übersehen wird.
Dem New Yorker Trend der letzten Jahre folgend, wird die Fotografie unwichtiger, Skulptur und Installation kehren zurück. Und, dem Titel der Ausstellung entsprechend, findet man viele Arbeiten, die sich mit Tieren beschäftigen, hier eine Büste mit Hundekopf, da ein Video mit Reh und Wolf und dort ein Video mit Pferd – die Beschwörung des »Animalischen« ist überdeutlich. Roland Flexners kleinformatige Zeichnungen von Menschen, die aussehen, als seien sie in einer psychiatrischen Abteilung porträtiert worden; Victor Alimpievs Video »Summer Lightning«, wo die Geräuschkulisse eines Sommergewitters die Bilder von zitternden Kinderhänden illustriert, und Jaan Tomiks nackte Schlittschuhläufer sind die gelungeneren Versuche, Leid und Angst einzufangen.
Viele Exponate rekurrieren jedoch auf die figürlich-überkonkrete Ästhetik der achtziger Jahre, die sagt: »Ich-bin-innerlich-zerrissen-und-die-Welt-ist-ein-Schuttplatz«. Da sieht man, was eigentlich nur noch in Volkshochschulkursen gefertigt wird, Gipsarme, die ins Leere greifen, Füße, die sich schmerzhaft gekrümmt in Geäst verheddern, aus Ton hergestellte menschenähnliche Wesen, die vielleicht an das Thema Klonen erinnern wollen. Auch stolpert man wieder über irgendwie »gebrochene« Schaufensterpuppen.
Diese Biennale fordert allzu deutlich eine »neue Ernsthaftigkeit«, die sich jedoch in meist oberflächlicher Schauerromantik an universalen Themen wie »Tod« und »Geburt« abarbeitet, anstatt präzise auf die Gegenwart zu zielen. Politische Kunst, Bezüge zum Hier und Jetzt finden sich kaum. Ausnahme ist zum Beispiel Felix Gmelins Video über den haptisch ausgerichteten Sexualkundeunterricht.
Wenn wiederum versucht wird, nicht nur eine rätselhaft düstere Atmosphäre zu erzeugen, sondern sich genau mit einem grauenhaften historischen Ereignis auseinanderzusetzen, kommt Peinliches dabei heraus: Robert Kusmirowski hat einen täuschend echten, riesigen Viehwaggon im dritten Stock der jüdischen Mädchenschule – die den Nazis als Deportations-Sammelpunkt diente – nachgezimmert. Dieser Einfühlungsversuch wirkt reichlich plump, aber das eigentlich Makabre ist das Spiel mit einer Art von »Deportationsromantik«. Von Ausstellungsbesuchern ist immer wieder zu hören: »Wahnsinn, wie hat der diesen Waggon hier hochgekriegt?« bis man versteht, dass es sich nicht um einen Original-Waggon handelt, sondern um eine Nachbildung aus Pappe. Letztlich spricht der Künstler nur von sich selbst und nicht von den Opfern. Das Staunen gilt ihm und seinem Können. Das ist das Perfide an solch einer »Einfühlungskunst«.
Der Biennale hätten weniger Pathos, weniger Ruinen- und Friedhofskitsch und mehr Inhalt gut getan.
© Tanja Dückers, April 2004