ZEIT Online, 10. September 2010
Lautstark wird in Deutschland die rigorose Ausweisung von Roma aus Frankreich kritisiert. Dabei geht man hier mit der Minderheit kaum besser um.
Kaum eine Minderheit besitzt einen schlechteren Ruf, über kaum eine andere Gruppe kursieren so viele Vorurteile. Roma gelten auch in Deutschland als oft sozial schwer integrierbar und als potenziell kriminell. Die Debatte um Sarrazins Thesen über vermeintlich minderbemittelte Migrantengruppen wird dieses Bild auch nicht positiv beeinflussen.
Mitgefühl und Solidarität mit den Roma kommt allerdings zuverlässig gern dann auf, wenn das Unrecht, das ihnen widerfährt, anderswo stattfindet: So wie derzeit in Frankreich, wo Präsident Sarkozy mit rabiaten Methoden versucht, einen Teil der Minderheit loszuwerden. Selbst Regierungsmitglieder protestieren dort vehement gegen die teilweise sehr brutalen Räumungen von Roma-Siedlungen. Der Europarat hat das französische Vorgehen verurteilt, ebenso der Papst.
Die deutschen Medien kommentieren die Vorfälle ebenfalls überwiegend äußerst kritisch, man schimpft über Sarkozy und den menschenfeindlichen Umgang mit den Roma in Frankreich. Dabei wird merkwürdigerweise kaum erwähnt, dass demnächst auch in Deutschland Tausende Roma abgeschoben werden sollen: Die rechtlichen Voraussetzungen sind allerdings anders als in Frankreich.
Deutschland hatte die Roma während des Krieges in Ex-Jugoslawien aufgenommen und ihnen ein zeitlich befristetes Bleiberecht eingeräumt. Nachdem die Bundesregierung im Frühjahr mit dem neu gegründeten Staat Kosovo ein sogenanntes Rückführungsabkommen geschlossen hat, ist es mit dieser Duldung vorbei: In den kommenden Jahren müssen rund 12.000 Roma Deutschland verlassen.
Die Situation mag rechtlich geklärt sein, moralisch vertretbar ist sie deshalb noch lange nicht. Auch hierzulande protestieren Kirchenvertreter und Menschenrechtsorganisationen vehement gegen das Vorhaben. Sie argumentieren, dass die Lage im Kosovo für Roma alles andere als sicher sei. Vielmehr würde die Minderheit dort ein soziales und ökonomisches Desaster erwarten.
Die Arbeitslosigkeit unter Roma beträgt dort fast 100 Prozent, viele Roma-Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind und hier seit zehn oder 15 Jahren leben, sprechen kein Albanisch. Die Roma-Kinder in Deutschland sind oft gut in das soziale Gefüge an ihrem jeweiligen Wohnort integriert, gehen zur Schule, haben hier ihre Freunde. Ein anderes Land außer Deutschland kennen sie nicht.
In dem fragwürdigen Abkommen zwischen Deutschland und dem Kosovo ist die Situation der Kinder nicht berücksichtigt worden, obwohl fast die Hälfte der rund 12.000 von Abschiebung bedrohten Roma Kinder und Jugendliche sind. Eine Unicef-Studie vom Juli dieses Jahres kommt zu dem Ergebnis, dass die Abschiebung dieser Kinder die UN-Kinderrechtskonvention verletzt. Denn der Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnraum und zur Gesundheitsvorsorge – kurz, zu allen Bereichen, die menschenwürdiges Leben erst ermöglichen, ist im Kosovo für sie nur begrenzt oder gar nicht vorhanden. Hinzu kommt die latente Feindschaft der Einheimischen, die die Roma pauschal als Handlanger der serbischen Staatsmacht verdächtigt und verfolgt haben.
In der Amtsprache deutscher Behörden klingt das ganz anders. Dort ist man der Meinung, dass „keine unmittelbare Gefährdung nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie“ bestehe. Auch vertritt das Bundesinnenministerium die Auffassung, dass „wirtschaftliche und soziale Aspekte im Zielstaat“ für die „Rückführbarkeit“ grundsätzlich nicht ausschlaggebend seien. Nüchterner kann man wohl kaum umschreiben, dass das Schicksal dieser Menschen hierzulande nicht weiter von Interesse ist. Hauptsache sie sind „zurückgeführt“ – in ein Land, das sie zum Teil nicht kennen – was dann geschieht, will niemand mehr wissen.
Dabei hat die EU-Kommission kürzlich in einem Bericht die Situation der Roma in Europa mit drastischen Worten beschrieben: „Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und Segregation, denen die Roma ausgesetzt sind, verstärken sich gegenseitig“, was wiederum „eine höhere Sterblichkeit und eine geringere Lebenserwartung zur Folge hat.“ Denn in vielen europäischen Staaten nimmt die Diskriminierung der Minderheit mittlerweile Formen an, die man im 21. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehalten hätte.
In Rumänien kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Roma, in einigen slowakischen Gemeinden werden „Lärmschutzmauern“ rund um Roma-Siedlungen gebaut, in Ungarn forderte kürzlich ein Vertreter der rechtsextremen Jobbik-Partei, kriminelle Roma in Konzentrationslager zu verfrachten. Auch gab es Mordserien an Roma in ungarischen Kleinstädten.
In anderen Ländern, wie im Kosovo, fristen Roma ein Dasein auf den Müllhalden der Gesellschaft. Dabei sind seit dem Völkermord an den Roma gerade erst ein paar Dekaden vergangen. Über eine halbe Million Roma wurde damals von den Nazis ermordet, häufig mit aktiver Unterstützung der lokalen Bevölkerung, vor allem in Südost-Europa. Jede zweite bis dritte Roma-Familie, die jetzt aus Deutschland abgeschoben werden soll, hat Verwandte im KZ verloren.
Deutschland bildet dabei keine Ausnahme, auch wenn hier die Abschiebungen rechtlich geordnet, reibungslos und „sauber“ verlaufen – Umstände, die den Skandal umso bedrückender erscheinen lassen.