Kunstmagazin, Ausgabe Dezember-Januar 2010/2011, Nr. 1012-1101
Wer die Ausstellung „Das Gift“ von Yoko Ono betritt, unternimmt eine Reise zurück in die Zeit von Love and Peace. Da stößt man auf von der Decke baumelnde Soldatenhelme, in denen blau-weiße Puzzleteile – ein zerstückelter Himmel – liegen. Jeder Besucher soll sich ein Stück Himmel mit nachhause nehmen. Dunkle Mäntel mit Schusslöchern verbreiten ebenfalls düstere Stimmung. Eine Leinwand, versehrt mit tiefen Schnitten und einer langen Nadel, wartet auf den Besucher, der hier, wie es heißt, seine Wunden nähen, also: sich selbst heilen kann. Wer glaubt, dass heute niemand mehr auf solcherart Kitsch anspringt, irrt sich gewaltig. Die mehrheitlich jungen Besucher der Ausstellung sticken Schmerzensbekenntnisse wie – in rührendem falschen Englisch – „Love hurts … without heals“ auf die Leinwand, zitieren Beatles-Song oder frühere Arbeiten von Yoko Ono wie „A hole to see the sky through“. Eine eifrige Näherin erklärt auf Nachfrage, sie hätte vor drei Wochen ihr Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht und sei froh, jetzt ihre Wunde vernähen zu können, dafür sei sie extra 60 Kilometer angereist. Beeindruckender – und die weitaus beste Arbeit der Ausstellung – ist „Memory of Violence“. In der Berliner Presse wurde dazu aufgerufen, Zettel oder Fotos mit eigenen Erinnerungen an erfahrene Gewalt mitzubringen und auf vergrößerte Stadtpläne von Berlin zu heften. „Pin your memory“ wird der Besucher aufgefordert. So ist eine Berliner Seelenlandschaft auf dem Hintergrund des geographischen Berlins zum Vorschein gekommen. Was hier zur Sprache kommt, hätte in keiner anderen Stadt seinen Niederschlag gefunden: Da hat jemand „Mauertote“ geschrieben, ein anderer „Gewaltsame Räumung der Jugendzentrums Putte im Wedding 1974“. Die Zahl „6.000 000“ verwirrt zunächst, dann erkennt man, dass sie über das Mahnmal für die ermordeten Juden gekritzelt wurde. Über den S-Bahnhof Lichtenberg steht „Nazis – 1989“, am U-Bahnhof Hermannplatz „Vier Türken verprügeln einen Mann, niemand hilft“. Ein paar Meter weiter steht einfach nur „Klaus“. Noch ein paar Straßen weiter: „Selbstmord eines Freundes.“ An der Bülowstraße findet sich der Hinweis: „Bülowstraße 55, 20.12.1983 – besetztes Haus geräumt, 100 Besetzer betroffen, Haus danach abgerissen“. Ironischerweise findet sich auch ein Zettel mit „John Lennon Gymnasium“. Hat hier jemand eine Gewalterfahrung gemacht?
„Memory of Violence“ ist ein einzigartiges Kollektivkunstwerk; ein Experiment, das mithilfe der Partipizationsbereitschaft der Besucher gelungen ist. Wer will, kann sich noch fotografieren lassen und Teil der Arbeit „Berlin Smile“ werden. Wie immer bei Yoko Ono ist die Idee schlicht: Nach der Konfrontation mit Krieg, Verlust und Schmerz darf man am Ende doch noch lächeln und glücklich sein. Auf das Gift der Gewalt folgt das Gegengift der Liebe. Man könnte trotzdem einigermaßen versöhnt mit Yoko Ono die Ausstellung verlassen, wäre da nicht die Riesenvideo-Installation „Shadows“: Äußerst disparate Bilder von Gewalt – Zweiter Weltkrieg, Irakkrieg, sich balgende Kinder – prasseln auf den Besucher ein. Der Einfall, den Besucher selbst noch als Schatten über die Leinwand huschen zu lassen und so plump der Mitschuld an allem Bösen in dieser Welt zu bezichtigen, kann auch nichts mehr retten. Yoko Ono differenziert nicht zwischen Angriff und Verteidigung in kriegerischen Konflikten, nicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Das Konkrete und Persönliche, das Gewalt erst richtig spürbar macht und in den Berlin-Stadtplänen auf eindringliche Weise sichtbar wurde, fehlt. So kommt die Ausstellung am Ende wieder auf Friedensdemo-Flugblattniveau an.
Yoko Ono: Das Gift
Haunch of Venison – Berlin
Heidestrasse 46
10557 Berlin
10. September – 13. November 2010
© Tanja Dückers, Dezember 2010