Zum Verhältnis von Lyrik und Politik

Vorwort in: Jan Egge Sedelies „niemals so ganz“, zeter & mordio Verlag, Hannover 2005

„Widersetz dich ihnen“ schreibt Jan Egge Sedelies und „du (…) spürst die wut / die empörung / den schmerz“ – Zeilen, die in ihrer direkten Sprache und ihrem aufrührerischen Gestus an Gedichte aus den späten Sechziger- und den Siebziger Jahren erinnern. Das Gedicht, in dem Wut, Empörung und Schmerz formuliert werden, ist mit „frage eines nachgeborenen“ betitelt und Erich Fried gewidmet. Da machen allerorts Musterschwiegersöhne vom Schlage eines Florian Illies von sich reden, da wird in den Geschichtswissenschaften die „Enkelgeneration“ erfunden, die jetzt angeblich unbefangen und ohne Vorwürfe das Gespräch mit der „Zeitzeugengeneration“ (hieß früher mal „Tätergeneration“) sucht, da schimpfen überall junge Gutverdiener über die sozialen Errungenschaften der linken Regierungen, von denen sie selber nach Strich und Faden profitiert haben – und hier knüpft jemand ganz unumwunden an den verbesserungswilligen Imperativ der in den letzten Jahren so viel gescholtenen Achtundsechziger an. Da ändert sich doch vielleicht etwas in der behäbig-saturierten deutschen Lyriklandschaft!

Das Verhältnis von Lyrik und Politik ist in den letzten Dekaden immer wieder in Frage gestellt und neu definiert worden. Dabei wurden extreme Positionen bezogen: Ende der Sechziger Jahre galt Kunst ohne Bekenntnis als moralisch anstößig, die Amalgamation von Literatur und Politik wurde vehement eingefordert – mit der immer schon bestehenden Gefahr, Eulen nach Athen zu tragen und nur diejenigen zu erreichen, die auch schon vor der Lektüre die „richtige“ Gesinnung hatten. Beredt skandierte Enzensberger den „Middle Class Blues“, sprach von Übersättigung, von traurig-solitären Hausfrauen und vom Tod einer Literatur, die sich l’art pour l’art-Gedanken verschrieben hat. Erich Fried dichtete – Nomen es Omen – für den Frieden, Peter Rühmkorf versucht’s im Imperativ mit „Komm raus aus deiner kaskoversicherten Dunkelkammer!“

Der Tonfall war direkt, die Botschaft eindeutig-deutlich.

Seit den späteren Achtziger und den Neunziger Jahren ist solch ein Ansatz verpönt, den politisch Dichtenden wird Schlichtheit vorgeworfen, wenn sie beherzt zu Hammer und Sichel in der Sprache greifen. Bestenfalls kann man noch mit kühlen Sezierungen punkten wie etwa Durs Grünbein. In einem Gedicht eine Meinung zu äußern, gilt als Zeichen von lyrischer Inkompetenz, geradezu als unerwachsen. Während im beherrschenden soziologischen Diskurs von der „Überkomplexität der Wirklichkeit“, einer „neuer Unübersichtlichkeit“, von „Multitude“, „Pluralismus“ und natürlich von „asymmetrischen Konflikten“ gesprochen wird, meint der modische Post-Jahrtausendwende-Dichter, diesen Phänomenen nur durch Entsprechung in der Sprache „gerecht“ werden zu können. Es scheint, als wären „eindeutige Gedichte“ nur in den politisch „eindeutigen“ Zeiten der statischen Bipolarität der Welt im Kalten Krieg bis 1989 erwünscht gewesen. Anders kann man sich nicht erklären, wie Lyriker wie Raoul Schrott oder Ulrike Draesner mit technoid-zeitgeistigen Einsprengseln in ihrer Kollagen-Lyrik unter akuten Kunstverdacht geraten konnten. Statt einer Frage oder einer Meinung wurde oft lediglich eine Materialsammlung angeboten: Versatzstücke aus TV, Filmen, Dokumentationen, auch aus der Soziologie, der Medizin und sogar der Militärgeschichte – . Dabei war oft anstelle der vormals kritischen Haltung eine Faszination von diesen dem technischen Laien erhaben erscheinenden technologischen Neuwelten zu spüren. Was zählte, war der Wohlklang der Wörter. Solch eine lyrische Affirmation galt plötzlich als chic, denn man war es leid, immer unzufrieden mit der Wirklichkeit zu sein. Man wollte sich arrangieren und die Dinge endlich einmal umarmen dürfen, die man eben noch bekämpft hatte. Die sogenannte „Betroffenheitslyrik“ wurde – abgesehen von einigen wenigen ästhetisch fundierten Auseinandersetzungen – nur aus modischen Beweggründen diskreditiert.

Letztendlich kann niemand sich einbilden, ein Monopol auf die Definition von Literatur oder Lyrik zu besitzen und festzulegen, ab wann ein Gedicht ein Gedicht ist und welche Eigenschaften – politisch / unpolitisch – es für diesen Gattungsbegriff erfüllen muß. Der eine Fehler, den die Achtundsechziger wirklich gemacht haben, nämlich jemanden zu seinem politischen und/oder kreativem Glück zwingen zu wollen, sollte nicht wiederholt werden. Aber Meinungsverbot wie in den Neunzigern: das bedeutet wirklich den Tod der Literatur. Kunst hat sich immer als Ergebnis einer Transformation von Wirklichkeit verstanden. Ob abbildhaft, also an der äußeren Wirklichkeit orientiert, oder abstrakt, an einer inneren „Wahrheit“ ausgerichtet – Kunst hat von der Höhlenmalerei bis zur Gegenwart Zeugnis von menschlicher Weltwahrnehmung abgelegt. Und die ist nun einmal subjektiv, das ist die conditio humana. Wahrnehmung ist immer Selektion, somit Bewertung und Meinung, deshalb ist die Vorstellung, daß das „Ich“ in der Lyrik nicht mehr vorkommen dürfe, beim Wort genommen identisch mit einem Schreibverbot.

Es scheint, daß in der jüngsten Zeit von den Rändern des Kulturbetriebs die in den Neunziger Jahren so selbstverständlich vorausgesetzte Nicht-Meinung und Nicht-Einmischung wieder in Frage gestellt wird. Politik als menschliche Kollektiverfahrung wird genauso als Ingredienz der Literatur und gerade auch der Lyrik angesehen wie andere individuelle und gesamtgesellschaftliche Erfahrungsbereiche auch. Zumal Politik meistens genau die Schnittstelle zwischen Öffentlich und Privat berührt. In neuen politischen Gedichten wie denen von Jan Egge Sedelies wird der spannende Versuch unternommen, der nicht zu leugnenden post- oder postpostmodernen Unübersichtlichkeit eben nicht mit den „gleichen Waffen“ (in der Sprache: Abstraktion, Hermetik, Diffusion, Materialsammlung statt Meinung, serielle Auszählung von Objekten statt kritischer Frage nach ihrem Wesen etc.) zu begegnen, sondern gerade mit dem, was sie nicht bietet: Orte, Namen, Kausalität, Fragen, Antworten, Schlußpunkte, Aufbrüche, neue Wege. Es scheint, daß sich ein Bedürfnis breit gemacht hat, Fragen nach politischer Gewaltanwendung und sozialer Ungerechtigkeit nicht mehr nur mit resigniertem Achselzucken und Verweis auf Phrasen wie der allgemeinen globalen wuchernden verwirrenden auswegslosen Überkomplexität begegnen zu wollen, sondern gerade in diesem Pool aus Nicht-Verantwortlichkeit, nicht-sichtbaren Feinden, Filialenwesen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden ein paar bei näherem Hinsehen oder längerem Nachdenken nämlich doch klar benennbare Mißstände anzuführen: Sedelies spricht ganz klar vom „linienflug LH 558“ – auf diesem Flug wurde ein Asylant von Polizisten erstickt – von „Kalle Marx“ und „Dagobert Duck“ und auch von „deutschland im krieg“. Dabei kann man etwas lernen:

„die geländewagen von Daimler Chrysler
ihre panzerung von Trasco in Bremen
der staudamm von Züblin
die zementfabriken von der Thyseen-tochter Polysis
der flughafen in basra von Hochtief
schon das dritte mobilfunknetz von Siemens

55 deutsche unternehmen auf der
Rebuild Iraq 2004-messe
(…)“

Nach dem „grellen Biedermeier“ der Neunziger Jahre mit seiner Clubculture und seiner Love Parade, nach resigniertem Privatismus und einer entsprechenden Wohnzimmerliteratur (Zeit der „kleinen Romane“ sowie der „Wasserspiegel-Poesie“), scheint es Lyriker zu geben, die wieder etwas Selbstbewußtsein gewonnen haben und unbequem werden – auch wenn dann ein oder anderer Literaturpreis ausbleibt. Da zumindest im deutschsprachigen Lyrikzirkus die Hermetisch-Elitären das morsche Kulturruder fest in der alten Hand halten, wundert es nicht, daß die jüngeren politisch schreibenden Lyriker eher aus dem Underground stammen.

Jan Egge Sedelies Gedichte sind angenehm nicht-kulturbetriebsnudelhaft; der Leser wird nicht mit unausgegorenen sprachlichen Experimenten gequält und muß sich auch nicht mit der Quantentheorie beschäftigen, weil ein staunender Lyriker gerade ein paar Begriffe aus seinem Arsenal chic findet. Sedelies’ große Begabung liegt darin, in Gedichten Geschichten zu numerischen Fakten zu erzählen, die uns täglich in den Nachrichten erreichen: Er bebildert diese Fakten, erzählt von Asylanten, die nicht mehr lebend am Zielort eintreffen, oder von Demonstranten, die wegen Verdacht auf illegalen Waffenbesitz gedemütigt und in U-Haft geschoben werden – ohne dabei ins Sentimentale oder Belehrende abzugleiten. Der Gestus ist relativ ruhig-berichtend, und doch wird dabei kein Nachrichtenstil imitiert. Da wird zum Beispiel von einem Hafen berichtet, an dem Leichen von Flüchtlingen gefunden werden: „leere kekspackungen liegen neben den leichen“. Dies ist keine tagesjournalistische Sicht, sondern die eines Künstlers. Hier wird Realität wiedergegeben und doch verwandelt: Auswahl, Bewertung, Analyse, Destillation, Formgebung, Kunst. Ereignisse aus der „großen Welt“ werden am Einzelfall veranschaulicht und abstrakte Inhalte auf menschliche Proportionen reduziert – das Gedicht als Miniatur und kleiner Ausschnitt von Wirklichkeit. Kunst und Politik – das kann jenseits von raunendem Kunstquark oder verstockter Anti-Literatur sehr gut zusammengehen.

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