Die Welt, 4. Januar 2003
Was verbinden Sie mit Prag? Die Karlsbrücke, den Wenzelsplatz, die Prager Burg? Jaroslav, der seit 30 Jahren in der böhmischen Hauptstadt lebt, denkt bei dieser Frage an den gigantischen Fernsehturm vor seinem Fenster, das Industriegebiet vor seiner Haustür und die vielen Plattenbauten am Horizont. Aber der geneigte Tourist täuscht sich, wenn er glaubt, daß Leute wie Jaroslav, die in einer krachig-punkigen Band namens „U-Bahn“ (er hat mal in Berlin gelebt) spielen, mit „ihrem“ Prag nicht zufrieden seien. Und der geneigte West-Reisende täuscht sich, wenn er Jaroslav, bloß weil er hängende Jeans, Bartstoppeln und halblange Haare trägt, für einen Vorstadt-Proleten halten. Jaroslav ist mit seinen gerade dreißig Jahren Feuilleton-Redakteur einer der größten tschechischen Zeitungen und hat mit „Nebe pod Berlinem“ (=“Der Himmel unter Berlin“), einen witzig-lakonischen Berlin-Roman geschrieben, der sofort mit dem tschechischen Pendant des Ingeborg-Bachmann-Preises im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet wurde. Für viele der jüngeren Tschechen ist die Prager Altstadt eine Operninszenierung, die mit dem wirklichen Leben herzlich wenig zu tun hat. Gelegentlich trifft man sich dort mit wissensbegierigen Deutschen wie mir, trinkt seine heiße Schokolade in der berühmten „Kavárna Slavia“, um den Gast dann alsbald ins lebendige, Patina-bewehrte, Industrie-romantische Viertel Zizkov zu entführen. „Wollen wir morgen abend zizkovieren?“ lauten die vielversprechenden Einladungen. Um Prag einmal „richtig“ kennenzulernen, hat Jaroslav aber noch einen anderen Tipp für mich parat: „Nimm Metro Linie C und steige an der Endhalte aus.“ Und das tat ich dann auch – seitdem weiß ich, daß es – so wie es für Eskimos zwanzig verschiedene Sorten von Schnee gibt – für Osteuropäer mindestens fünfzig verschiedene Plattenbautypen gibt. Und daß neunzig Prozent aller Prager hier wohnen – Fotos vom Hradschin wie von einem exotischen Urlaubsort an der schmalen Küchenwand, versteht sich.