Wochenendbeilage der Stuttgarter Zeitung, 5. Juli 2008
Reisen in den Osten (3): Der Aufschwung in Siebenbürgen und im Banat verändert das mutiethnische Land
Jahrzehntelang war Deutschland für viele Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben das gelobte Land, der Sehnsuchtsort schlechthin – mittlerweile ist zumindest ein kleiner Teil von ihnen zurück in die alte Heimat gekehrt. In der Mehrzahl sind es junge Menschen mit wenig Geld und viel Idealismus, die noch flexibel sind und einen biographischen Neuanfang wagen wollen. Während ihre Eltern, mit denen sie Anfang der neunziger Jahre ausgewandert sind, ihre deutschen Wurzeln betonen, ziehen die Kinder auf einmal Siebenbürgen dem Schwarzwald vor. Manche sind Abenteurer, andere eher ökonomisch denkende Pragmatiker. Von deutschstämmigen Neo-Hippies, die in den Karpaten Schafe züchten bis hin zu Autohändlern in Anzug und Krawatte habe ich die unterschiedlichsten Rückkehrer getroffen. Die Zahl der Rückkehrer – darunter Kulturmanager, Verleger, Gastronomen, Firmenbesitzer, Pensionäre, Landwirte, Tierzüchter, Aussteiger – hat nach der ersten Ausreisewelle so zugenommen, dass in Sibiu eine Weile lang ein Verein mit dem passenden Namen Arche Noah e.V. zur Wiedereingliederung in die rumänische Gesellschaft existiert hat.
Dass Menschen freiwillig die Zelte in Deutschland abbrechen, um ins Ex-Ceausescu-Land zu gehen, ist ein Phänomen, das manchen Deutschen sicher überrascht, erscheint Rumänien doch noch immer als Land hinter der Zivilisationsgrenze. Und Siebenbürgen, auch Transsilvanien („Land hinter den Wäldern“) genannt, gilt allein schon wegen Dracula, Bram Stokers Erfindung, häufig noch als Inbegriff einer gefährlichen, unberechenbaren und hinterwäldlerischen Region. „Hinter den Karpaten“ bedeutet meist nichts Gutes. Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate in Rumänien nicht höher als in Italien oder Spanien. Siebenbürgen und das Banat sind Boomregionen, in denen 120 deutsche Firmen Filialen eröffnet haben, darunter Thyssen-Krupp und Metro. Städte wie Sibiu (Hermannstadt) und Cluj-Napoca (Klausenburg) haben eine Arbeitslosenrate von einem Prozent und einen Mangel an Facharbeitern. Vom Aufschwung des südosteuropäischen Landes haben jedoch viele Deutsche noch nichts mitbekommen. Dabei überlegen es sich junge und gut ausgebildete Rumänen mittlerweile dreimal, ob sie nach Westeuropa gehen, um eine Arbeit anzunehmen. Ein rumänischer Bekannter hat kürzlich einen Job in Brüssel abgelehnt, weil der Arbeitsplatz in Braşov (Kronstadt) attraktiver ist. Und ein anderer aus dem EDV-Bereich (in dem Rumänien sehr stark vertreten ist) braucht bei seiner Firma in Mannheim nur anzudeuten, dass er über eine Rückkehr nachdenkt, da wird sein Gehalt schon wieder aufgestockt. Natürlich: In Rumänien herrscht zum Teil noch bittere Armut. Zu den Verlierern gehören die Älteren, die nicht mehr umsatteln und einen neuen Beruf erlernen können, und vor allem die Rentner. Die Gewinner sind die in den siebziger Jahren und später Geborenen, die ihre Ausbildung nach der Revolution (hier sagt man nicht Wende, einige Rumänen ließen 1989 ihr Leben) begannen und zum Teil hoch qualifiziert sind. Neben der englischen oder der deutschen Sprache beherrschen viele auch Französisch, das der eigenen nicht fremd ist.
Bianca Herlo ist erst Anfang Dreißig und schon Leiterin des „Deutschen Kulturzentrums Hermannstadt“, eine Einrichtung, die von der Robert-Bosch-Stiftung und dem Auswärtigen Amt gefördert wird. Lebhaft erzählt sie mir, wie sie schon zweimal in ihrem Leben einen radikalen Neuanfang gemacht hat: 1990 ist sie mit ihren Eltern und Geschwistern nach Deutschland ausgewandert. Darüber berichtet sie jetzt mit sympathischer Selbstironie: „Ein Monat lang berieten wir im Familienkreis – gemäß der nagelneuen Demokratie -, ob das Hierbleiben Sinn ergäbe. Wir beschlossen einstimmig, nach Heidelberg auszuwandern. Ich war 14 Jahre alt, abenteuerlustig und ganz erpicht darauf, in das Land zu ziehen, zu dem uns der Zutritt jahrelang verwehrt blieb.“
Vierzehn Jahre später kehrt Bianca Herlo zurück. Mit Mann und Kind. „Nicht allein der attraktiven Stelle als Leiterin des Deutschen Kulturzentrums wegen – das Land mitten in all den Veränderungen mitgestalten zu können und nicht zuletzt der Reiz, das Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt 2007 hier vor Ort zu erleben, waren die ausschlaggebenden Motive – “, sagt die aus Baden-Württemberg Zurückgekehrte. Ihren deutschen Pass hat sie allerdings behalten. Denn langfristig würde sie gern einmal im Berliner Kunst- und Kulturbetrieb arbeiten. Was die Entwicklung von Sibiu angeht, ist sie jedoch sehr zuversichtlich: „Die Stadt hat das Potential, sich schnell zu entwickeln. Der Beitritt Rumäniens in die EU, die verbesserte Anbindung an den Westen und die Rolle als Schnittstelle zwischen Orient und Okzident sind gute Voraussetzungen für eine berufliche Laufbahn hier. Rumänien überspringt zurzeit viele Phasen der Entwicklung, das hohe Tempo ist ungewohnt.“
Viele Westeuropäer wundern sich beim ersten Besuch von Sibiu: So weit östlich hätten sie niemals eine so sehr von deutscher Kultur und Lebensart geprägte Stadt vermutet: In Hinterhöfen hängen Blumenkästen mit Geranien, überall sieht man schwarz-grün gestrichene Fensterläden. Auch das Interieur mancher Bierstuben erinnert an süddeutsche Gasthäuser. Mit dem türmchenbewehrten Palast des Königs der fahrenden Roma, der rumänisch-orthodoxen Kirche, ungarischen Händlern und buntem südeuropäischen Straßenleben mutet Sibiu gleichzeitig fremdartig an. Und die Siebenbürger Sachsen sprechen ein altmodisches Deutsch, frei von Anglizismen, mit Ausdrücken, die man meint, lange nicht mehr gehört zu haben. In den Straßen Sibius hört man viele Sprachen. 19 verschiedene Nationalitäten sind in Siebenbürgen zu finden. Bevölkerungsgruppen wie die Ungarn und die Roma machen jede für sich genommen mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung aus (je ca zwei Millionen).
Nach Cluj-Napoca war ich vom „Deutschen Kulturzentrum Klausenburg“ der Robert-Bosch-Stiftung zu einer Lesung eingeladen worden. Das Literaturprogramm betreut Agnes Simon, eine in Rumänien aufgewachsene Ungarin, die Germanistik studiert hat. Bei ihrer Großmutter im Szeklerland, einer hauptsächlich von Ungarn bevölkerten Region innerhalb Siebenbürgens, steht die Weltliteratur selbstverständlich in fünf Sprachen, die die polyglotte alte Damen alle fließend spricht, im Regal. Ich finde Thomas Mann auf Ungarisch, Esterhazy auf Deutsch, Dostojewski auf Rumänisch, V. S. Naipaul und Isaac Bashevis Singer auf Deutsch, Joseph Heller und Ludmilla Ulitzkaja auf Rumänisch, Goethe in Ungarisch, Shakespeare vor allem in Russisch … ein unglaublicher Schatz in einem schäbigen Plattenbau, in dem man nicht auf den ersten Blick solch eine Bibliothek vermutet hätte.
Ein zentrales Anliegen der Deutschen Kulturzentren ist es, mit ihren jeweiligen Programmen alle Sprach- und Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Rumänen, Deutsche, Ungarn und Roma leben in Siebenbürgen. Mich interessiert, wie sich die Beziehungen zwischen diesen aus Sicht einer Ortskundigen gestalten. „Die Grenzen schwinden, Mischehen sind keine Seltenheit mehr, und die Rückkehrer beeinflussen die Stimmung positiv“, meint Bianca Herlo, während sie immer wieder Bekannten auf der Straße zuwinkt. „Ganz wichtig zu erwähnen: Die junge Generation überwindet problemlos ethnische Differenzen und Zugehörigkeiten.“
Ganz so viel Optimismus teilt nicht jeder. Nicht nur, dass die Roma als bevölkerungsstärkste Minderheit keineswegs gleichberechtigt behandelt werden. „Bei meiner Oma im Szeklerland hört man immer weniger Ungarisch auf den Straßen“, sagt Agnes Simon, „dafür mehr und mehr Rumänisch“. Ganz austauschbar und egal scheint das eigene Zugehörigkeitsgefühl doch noch nicht geworden zu sein, auch wenn Menschen wie Agnes natürlich perfekt Rumänisch sprechen. Und sie beklagt sich über viele subtile Romanisierungsversuche, die die Ungarn erdulden mussten. Ihre Eltern haben ihr den Namen Agnes gegeben, weil er in Deutsch, Ungarisch und Rumänisch gleich geschrieben wird und nicht romanisiert werden kann. Und der Bürgermeister von Cluj-Napoca versuchte, der multiethnischen Stadt sichtbar ein rumänisches Antlitz zu verschaffen: Bushaltestationen, Parkbänke, selbst Papierkörbe im öffentlichen Raum wurden in Blau-Gelb-Rot, den rumänischen Nationalfarben, gestrichen. Die ganze Stadt als Fußballstadion, na wunderbar. Besonders die Ungarn (die Deutschstämmigen machen in der Stadt nur noch 1 % der Bevölkerung aus) fühlten sich von dieser deutlichen Farbensprache angegriffen und ausgegrenzt.
Laura Balomiri, Österreich-Lektorin und Dozentin an der Lucian-Blaga-Universität-Sibiu, ist nach der Wende aus Wien zurückgekehrt. Aufgewachsen ist sie in Bukarest, dann mit der Familie nach Österreich, wo Verwandte lebten, ausgewandert. Ihre Rückkehr nach Rumänien hat sie, trotz guter Arbeitsstelle, nicht als unkompliziert in Erinnerung. „Manche Leute fragen sich, ob man im Westen versagt hat und deshalb zurückkommt“, sagt sie. Und: „Andere wiederum halten einen für arrogant, denken, man hält sich jetzt, mit Erfahrungen und Kontakten in Westeuropa, für etwas Besseres“. In ihrer romantisch-verwinkelten Wohnung voller Bücher, CDs und Kissen mitten in der Altstadt von Sibiu spürt man, dass Laura Balomiri vor allem dort zuhause ist, wo sie einen inneren Rückzugsort gefunden hat.
Ein Leben zwischen zwei Welten beschreitet Andreas Huber, Autohausbesitzer in Sibiu: Während viele Ausgewanderte erst einmal die Stabilisierung Rumäniens nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und den EU-Beitritt abwarteten, bevor sie zurückgingen, hat Andreas Huber, ein freundlicher Mann um die fünfzig, die Chancen der Zeitenwende sehr früh erkannt. Noch im Dezember 1989, direkt nach Ceausescus Tod, fuhr er das erste Mal in die alte Heimat. „Ich war der einzige, der nicht aus Rumänien raus, sondern nach Rumänien hinein fuhr“, erinnert er sich. „ Das Land war in einem schlimmen Zustand. Alle haben mich für vollkommen verrückt gehalten“. Nachdem sich Andreas Huber einen Überblick vor Ort verschafft hat, kam er bald wieder: diesmal mit einigen alten deutschen Autos. Heute leitet er die Opel-Filiale in Sibiu und ist einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Region.
Wie viele Rumäniendeutsche pendelt Andreas Huber eher zwischen beiden Ländern als dass er sich für ein Leben an einem Ort entschieden hätte. Wer weiß, ob er sich vielleicht beim der EM, in der Rumänien recht gut abschnitt, einen deutschen und einen rumänischen Wimpel an den Opel gesteckt hat?
Frau Roth-Höppner hat es immer wieder nach Rumänien gezogen, obwohl sie und ihr Mann in Deutschland Karriere gemacht haben. Beide haben promoviert und in Deutschland als Astrophysiker gearbeitet; unter anderem haben sie die Hamburger Sternwarte geleitet. Die Höppners haben alles aufgegeben und Anfang der Neunziger in Sibiu einen Neubeginn gewagt. Zunächst fuhr Frau Roth-Höppner einfach nur mit einem Kopiergerät im Gepäck nach Rumänien, um alte Freunde zu besuchen. Bald schon konnte sie sich nicht mehr retten vor Bitten um Kopierdienste. „Hier eine Hochzeitseinladung, da eine Visitenkarte, da eine neu gegründete Firma – es brummte“, sagt Frau Roth-Höppner. „In Rumänien hatte doch unmittelbar nach der Diktatur kaum jemand privat Zugang zu solcher Technik“. Bald nachdem die ehemalige Astrophysikerin eine Druckerei aufgebaut hatte, gründeten sie und ihr Mann den mittlerweile sehr erfolgreichen deutschsprachigen hora-Verlag. In einem Nebensatz erzählt Frau Roth-Höppner, dass sie in Rumänien unter Ceausescu zwei Jahre grundlos im Gefängnis verbracht hat. Man würde annehmen, dass ein Mensch, der so etwas erleben hat, nicht unbedingt freiwillig in das Land zurückkehrt, das ihn derart schlecht behandelt hat. Doch Frau Roth-Höppner sieht das anders: „Natürlich war das schlimm… aber Rumänien hatte immer zwei Gesichter … im Gefängnis habe ich gleich sehr viele Freunde wiedergetroffen. Es waren doch alle da. Und viele neue gewonnen! Es war eine … intensive Zeit, würde ich sagen.“ Und nicht ohne eine Spur von Verachtung mir gegenüber: „Sie können sich das sicher nicht vorstellen. Aber: Ich wollte unbedingt zurück nach Rumänien.“
Obwohl immer weniger Deutsche in Rumänien leben (daran ändert auch die Zahl der Rückkehrer nichts, die Mehrzahl der Deutschstämmigen in Rumänien – insgesamt nur noch 60.000 – sind alte Menschen), macht sich der Verlag prächtig: Die Bücher von Touristen gekauft, aber auch von Rumänen, die zunehmend Deutsch lernen (ohne deutschstämmig zu sein). Das deutsche Erbe in der Region wird – abgesehen von den alten Sachsen und den jungen Rückkehrern – mittlerweile auch von der rumänischen Bevölkerung fortgeführt. Das altehrwürdige deutsche Brukenthal-Lyzeum in Sibiu wird mittlerweile zu 90% von Kindern der rumänischen Oberschicht besucht. Wenn im September auf dem Huetplatz vor der evangelischen Stadtpfarrkirche getanzt wird, wundert sich niemand mehr darüber, dass unter den jungen Tänzern in sächsischer Tracht auch manche mit dunkler Gesichtsfarbe dabei sind. Viele junge Rumänen begeistern sich für die Feierlichkeiten und sehen das siebenbürgische Erbe nun als gemeinsamen kulturellen Schatz an. Maria Trappen, eine rumänische Lehrerin aus Sibiu, die in Deutschland und in der Schweiz gelebt hat, erzählt uns: „Ich war früher in einer sehr traditionellen Tanzgruppe der Siebenbürger Sachsen – da machen nämlich auch Rumänen mit. Da wir ja kaum noch Deutsche hier haben, übernehmen wir zum Teil ihr Kulturgut. Es wäre doch schade, wenn das ganz verschwindet.“ In Rumänien scheint man oft mit vielen Identitäten ausgestattet zu sein: In den gleichen Jahren, in denen Maria Trappen im Trachtenkleid deutsche Lieder sang, betätigte sie sich erfolgreich als Profischwimmerin für Rumänien. Ihrem Rücken sieht man das heute noch an.
Tanja Dückers, 39, Schriftstellerin und Journalistin, ist mit dem „Grenzgänger“-Stipendium (für osteuropabezogene Studien) der Robert-Bosch-Stiftung nach Siebenbürgen (Rumänien) gereist, um über die nach 1989 ausgewanderten Siebenbürger Sachsen zu recherchieren, die nun wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt sind.